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Grabmal Heinrichs des Löwen und seiner Gemahlin Mechthildis
im Dome zu Braunschweig.
Die Denkmäler jener westdeutschen Skulpturengruppe,
als deren typischste Vertreter wir die beiden Gestalten
vom Strassburger Münster nannten, stellen sich als
direkte Geschwister der nordfranzösischen Bildwerke
dar. Hier am Rheine war der Einfluss des Nachbarlandes
zu mächtig, als dass man ihm mit einer gewissen
Selbständigkeit hätte gegenübertreten können.
In der sächsisch - thüringischen Gruppe dagegen ist
eine nationale Eigenart unverkennbar. Man braucht
nur einmal die goldene Pforte von Freiberg neben
ein Portal etwa aus Reims oder Amiens, die Naumburger
Stifterbildnisse neben die. Strassburger Figuren
zu stellen, um diesen Unterschied sofort zu erkennen.
In erster Linie wurzelt diese Scheidung in der gleichzeitigen
architektonischen Entwicklung. In Frankreich
vollzog sich der ganze Aufschwung der Plastik
gleichen Schrittes mit der Ausbildung des gotischen
Stiles. Die Figuren, gezwungen sich den engen
Baugliedern einzufügen und anzupassen
, erhalten von vornherein
geregeltere, mit der Zeit schematische
Formen. Die charakteristische
im folgenden Jahrhundert
auftretende gotische Hüftenbiegung
schlummert von Anfang an in
ihnen. Deutschland behält noch
lange Zeit den romanischen Stil
bei mit seinem gänzlich anders
gearteten Charakter derDekoration.
Alle jene Denkmäler der sächsischen
Gruppe befinden sich an
und in romanischen Kirchen. Daher
sind sie von vornherein berechnet
auf eine mehr auf sich
selbst gestellte, von der Architektur
unabhängige Wirkung. Sie
erhalten dadurch zugleich eine
freiere und ausdrucksvollere, mehr
lebenswahre Bildung, und selbst
wo der gotische Stil allmählich
zum Siege gelangt, sträubt sich
der deutsche Geist gegen dessen
Gleichförmigkeit und setzt ihm in
der Plastik mit bewusster Konsequenz
das Streben nach lebhafterer
Individualisierung und
Naturwahrheit entgegen, selbst
auf Kosten des formalen Gleichgewichtes
. Das liegt eben tief
in dem verschiedenen Charakter
beider Völker begründet und ist
ein lehrreicher Hinweis darauf, worin ein jedes die
Stärke seiner Kunst zu suchen hat. In dem Vermögen
aber, diese Eigenschaften ihren Schöpfungen zu verleiben
und die aus Frankreich empfangenen Keime
in so durchdachter selbständiger Weise zur Blüte zu
bringen, zeigt sich der nationale Charakter dieser
ganzen Kunst. Es ist von jeher das Recht der Kunst
gewesen, sich da zu verjüngen, wo zu anderer Zeit oder
an anderem Orte das Höchste ausgesprochen worden
war. Nur auf die Art der Aneignung kommt es
an. Wären jene Meisterwerke der deutschen Plastik
des XIII. Jahrhunderts nur unselbständige Nachahmungen
der gleichzeitigen französischen Kunst, sie
würden keinen Ehrenplatz unter den nationalen
Schöpfungen beanspruchen dürfen. So aber sind
sie ein beredtes Zeugnis dafür, wie der germanische
Geist zu allen Zeiten sich das Beste anzueignen und
selbstthätig zu verarbeiten wusste.
Paul Weber.
Herausgeber: Wilhelm Spemann, Stuttgart; Redaktion Dr. R. Graul und Dr. R. Stettiner, Berlin; Druck von W. Büxenstein, Berlin;
Verlag von W. Spemann in Berlin und Stuttgart.
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