http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_10_1904/0090
-ö»4^> ZUERST DER HOF UND DANN DAS HAUS <^m?-
margarete von brauchitsch « dunkelblaue klavierdecke mit
seiden-applikation und maschinenstickerei in weiszer seide
Zeichner wird das Stiegenhaus oft in den unvermeidlich
dunklen Winkel seines Grundrisses
verlegen, denn es verträgt Oberlicht,
selbst teilweise offenes Dach, sobald die
Treppen vor Regen und Frost hinreichend
geschützt werden. An die Straßenseite versetzt
, wird es einen Wohnraum mehr dem
Hochparterre schenken.
Es muß wieder eine „Wissenschaft der
Treppenanlage" erstehen. Die Poesie derselben
, die Empfänglichkeit dafür ist heute
versiegt. Die guten, alten Treppen umspannen
eine unendliche Tonleiter, von der erhabenen
Majestät und dramatisch feierlichen
Würde Melpomenens bis zu Thalias ländlichheiterer
Ekloge. Von den Säulenhallen mit
den perspektivischen Ausblicken derGenueser-
treppen und dem Maestoso Fischer's von Erlach
in der Prachttreppe der Himmelpfortgasse
in Wien, über Michelangelo's einzig
dastehende Stiege der Laurenziana bis zur
kleinen Wendeltreppe des Frankfurter Römers,
oder zur einfach überdachten Holztreppe des
Freiburger Archivs, welche Fülle von Phantasien
umfassen sie, welche Fülle musikalischer
Empfindungen lösen sie nicht aus!
Die neuen Bauordnungen verschulden die
schlechten Treppen nicht. Sie sorgen nur
für Feuersicherheit und standfeste, ehrliche
Ausführung. Sie fordern einen festen, dichten
Türverschluß bei der Kellerstiege, um den
für den Hausflur nachteiligen Luftaustausch
zu verhindern. Die Gesetze begünstigen sogar
halboffene Stiegenanlagen, sobald diese nicht
der Wetterseite ausgesetzt sind. Die an die
Front versetzte Treppe könnte sachlich reizvolle
Motive bieten, und dabei eine Raumersparnis
erzielen. Unsere gewöhnlichen
Stiegen, die gerade Stufen mit Spitzstufen
an Stelle des Ruheabsatzes halsbrecherisch
vereinigen, sind unschön, nehmen Platz und
Luft weg. Sobald bei einem großen, ungünstig
gelegenen Baublock Lichthöfe nicht zu umgehen
sind, könnte doch der luftige Treppenraum
mit ihnen zu einer gesunden, zweckmäßigen
Hofgruppe schön vereinigt werden,
ohne mehr Geld und Grund zu opfern.
(Fortsetzung' folgt.)
76
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_10_1904/0090