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FACHSCHULE HAIDA □ VASEN UND DOSE AUS GESCHLIFFENEM GLAS MIT DOPPELTEM ÜBERFANG
Vertrieb: Joh. Oertel & Co., Haida (Böhmen)
NORDBÖHMISCHE GLASARBEITEN
Das Glas steht wieder einmal im Vordergrund
des kunstgewerblichen Schaffens in
Oesterreich. Die fortschreitende Durchdringung
aller Arbeitsgebiete unseres Kunstgewerbes mit
den neuzeitlichen Grundsätzen zweckgemäßer
Formgebung, vollkommener technischer Beherrschung
der Materialsprache und sinngemäßer
Durchbildung des Schmuckes hat auch das alte
Gebiet der Veredelung der Glasarbeiten erreicht.
Hier fanden sich besondere Entwicklungsbedingungen
vor. Noch immer besteht die
2j Glaserzeugung und die Herstellung der Ver-
g) edelung durch Schliff, Gravur, Aetzung, Farbenauftrag
, Ueberfang, Email, Metallüberzug
an den alten Produktionsstätten Nordböhmens.
Wenn auch Glashütten zur Herstellung des
Rohglases über mehrere Gebiete Böhmens verstreut
sind, so ist doch die Hohlglasraffinerie
vorwiegend im Haida-Steinschönauer Bezirk
lokalisiert.
Die sogenannten „Verleger" hatten seit alten
Zeiten den Handel, den Vertrieb in der Hand.
Von ihnen abhängig blieben in den zahlreichen,
um die Städtchen Haida und Steinschönau
gruppierten Ortschaften die Schleifer, Kugler,
Einbohrer, Graveure, Aetzer, Maler, Vergolder,
Versilberer usw., die größtenteils Heimarbeit
leisteten und einst in getrennten Zünften vereinigt
waren.
Je mehr der Massenbetrieb einflußreich und
verhängnisvoll wurde, desto geringer blieb die
Selbständigkeit der kleinen Meister und ihrer
Gehilfen. Die letzte Blüte handwerklicher Freiheit
in der ersten Hälfte und um die Mitte des
19. Jahrhunderts hat ihr Werk durch große Mannigfaltigkeit
der Formen und Techniken ausgezeichnet
. Sie stand im Zusammenhang mit
der Ausbildung des bürgerlichen Heims. Der
Glasschrank im Wohnraum, die Kredenz im
Speisezimmer eines wohlhabenden Bürgers
mußten eine Auswahl schöner Glasarbeiten bergen
, die als Geschenk- und Erbstücke wert
gehalten wurden. Heute sind diese Stücke
Gegenstand des Sammeleifers geworden, der
an der Farben- und Formenfreude und an dem
oft intimen und fast persönlichen Reiz der
geschmackvollen handwerklichen Leistung Gefallen
findet.
Unsere moderne Wohnungsausbildung sucht
dem bürgerlichen Milieu etwas von der Intimität
und der beziehungsreichen Handwerksfreude
zurückzuerobern, welche einst zum
Besitzstande der Wohlhabenden gehörte und
in das einfachste Heim eine künstlerische Note
brachte.
Die nordböhmischen Gläser beginnen seit ganz
kurzer Zeit wieder eine Rolle zu spielen, seit man
die Anknüpfung an die alten Techniken aufgenommen
hat, und seitdem in den staatlichen
Lehranstalten von Haida und Steinschönau
Dekorative Kunst. XVII. 8. Mai 1914
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