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p. ilsted
BEIM GROSSVATER
der seine Zeitung liest oder seine Kakteen
betreut. Aehnlich verhält es sich mit den
Stuben des Münchners Karl Spitzweg und mit
den galanten Boudoirs, die Albert von Keller
mit zierlichen Damen belebt, beide zu einer
prachtvollen Einheit, zu einer notwendigen Zusammengehörigkeit
verbindend (Abb. geg. S. 24
u. S. 23). Interieur und Interieurgestalt müssen
eins sein. Technisch kann dem Künstler die
Gestalt im Raum aus Gründen der Perspektive
, aus Gründen der dimensionalen Ver-
wahrscheinlichung willkommen sein, aber das
ist nicht das Entscheidende. Entscheidend
ist die Gestalt als Stimmungsträger im Raum.
Und so ergibt es sich, daß bei dem echten
Interieurbild weder die Gestalt nur eine Staffage
des Raumes, noch der Raum nur eine
Folie der Gestalt ist. Im ersteren Fall bleibt das
Interieur Stilleben, im letzteren wird es Anekdotenbild
. Denn mag, um zu der zweitenMöglich-
keit ein Wort zu sagen, die Ettaler Klosterkirche
mit ihrenLicht fluten unddem viel verschnörkelten
Barockprunk noch so vorzüglich gemalt sein,
wenn man einen Lodenfremden, mit dem
Bergstock und dem Rucksack angetan und
mit dem Feldstecher die Wände absuchend, in
dieses Raumgebilde stellt, so ist die Wirkung
des guten Interieurs unwiederbringlich dahin:
die Anekdote bleibt — und das ist eine Gefahr
, an der selbst ein Menzel nicht immer
ungestraft vorbeiging. Ich will damit nicht
sagen, daß z. B. ein gewisser humoristischer
Zug, der sich so warm und vorzüglich mit dem
kleinbürgerlichen Spießermilieu zu verbinden
vermag, um jeden Preis vermieden werden
müßte. Aber er wird nur dann nicht zur
Anekdote werden, wenn der Raum, in den die
humoristische Gestalt (ich denke etwa an
Vautiers gemütliche Weinschwelge und an Spitzwegs
armen Poeten, an seine ausgedörrten
Schreiberlein und verknöcherten Hagestolze)
gestellt ist, die Stimmung diskret aufnimmt
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