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ERNST ZIMMERMANN
AM BODENSEE
Natur neben der Qualitätsfrage. Und das Entwicklungsmoment
im Sinn malerischen Aufstiegs
oder Abstiegs, der Beeinflussung von
Lehrern, von alten Meistern, von Reisen, von
Kollegen, von technischen Erkenntnissen ist
wichtiger als politische Spekulationen. Der
Künstler ist nun einmal kein „zoon politikon";
sein Künstlertum steht der Entfaltung politischer
Instinkte entgegen: wagt er sich gleichwohl
auf die Bahn, so zerschellt er wie Courbet.
Ernst Zimmermann ging, politisch unbeschwert
, auf Reisen. 1873 sah er die Weltausstellung
in Wien und besuchte Venedig,
das später wegen seiner zoologischen Farbenwunder
für ihn bedeutungsvoll wurde, 1874
sah er Paris. Er weilte also gerade zu jener
Zeit von München fern, da sich —nach 1871 —
um Wilhelm Leibi jener Kreis zu scharen begann
, der für die weitere Entwicklung der
Münchner Kunst so bedeutungsvoll werden
sollte. Man muß es beinahe als einen Zufall
ansehen, daß Ernst Zimmermann nicht
von dem Leibi-Strudel erfaßt wurde, denn
mancherlei Fäden schlugen von Leibi zu ihm.
So schreibt Alfred Zimmermann, der jüngere
Bruder Emsts, in einem Brief an seine Neffen,
die Söhne Emsts, Leibi habe ihm eines Tages
erzählt, daß ihm ein Bild des alten Reinhold
Sebastian Zimmermann, das er im Kölner
Walraff-Richartz-Museum gesehen, den Weg
nach München gewiesen habe. „Wo so gut
gemalt wird, dachte ich mir, da muß auch für
mich etwas zu lernen sein", sagte Leibi. Und
was wäre näher gelegen, als daß Leibi auch
künstlerisch sich mit den Söhnen des Mannes
zusammengetan hätte, der ihn durch sein Vorbild
nach München gelockt? Indessen Leibi,
um mehrere Jahre älter als Ernst Zimmermann
, arbeitete damals, als dieser in die Akademie
eintrat, schon ganz selbständig, wenn
er auch der Form nach noch unter Pilotys
Leitung stand. Sein Bildnis der Frau Gedon
war damals eben vollendet: er war also schon
der junge Meister, als Ernst Zimmermann sich
noch im embryonalsten Zustand des Künstlers
wand. Und doch: wie kam Ernst Zimmermann
in fabelhaft raschem Aufstieg um die
Mitte und zu Ende der siebziger Jahre Leibi
nahe! Es gibt aus dieser Zeit ein Werk Ernst
Zimmermanns, den Kopf einer alten Bauernfrau
(München, Neue Pinakothek), der von
verblüffender Aehnlichkeit mit einem Werk
Leibis aus seiner Graßlfinger Zeit ist. Natürlich
denke ich dabei nur an eine innere Aehnlichkeit,
an eine Wesensähnlichkeit, keinesfalls an eine
Uebereinstimmung in formalen Zügen, denn die
beiden Künstler haben niemals zusammengearbeitet
, haben nie vor dem gleichen Modell
gesessen.
Was ich damit sagen will, ist dies: Es ist
für die Entwicklung der Malerei in München
ein Glück gewesen, daß nicht alle fähigen
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