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GRAF LEOPOLD VON KALCKREUTH
BROCKENSCHLAG BEI LINZ
zu einem Bekenntnis leidenschaftlichen Zwanges
emporreckt. Solche Kunst ruht auf anderen
Gesetzen als die der lateinischen Völker.
Klarheit, Sauberkeit, Rhythmus und Ueber-
persönlichkeit sind hier die positiven Akzente;
dort heißen sie Drang, Fülle, Hitze und Widerspruch
. Wie es aber gelang, das Gärende
und Ungestaltete dennoch zu klarer und unmißverständlicher
Form und Staffelung zu zwingen,
sei an der Schöpfung nachgewiesen, in der die
Spätgotik ihren volltönendsten und wahrhaft
majestätischen Ausdruck erreicht, im Schnitzaltar
.
* *
•
Jeder kennt dies Gebilde, das in vielen
Exemplaren in bunter Schnitzerei und Malerei
in Kirchen und Klöstern, in Rathäusern und
Museen als das Hauptstück des kirchlichen
Inventars, als kultisches Zentrum den vornehmsten
Platz hat. Erfassen kann man den
vollen Sinn des Gebildes da, wo es noch an
ursprünglicher Stelle, im heimischen Licht,
umwallt vom Weihrauch der Messe, umklungen
von den Akkorden hoher Bittgesänge, aufragt.
Ein goldenes Gehäuse mit dem tiefen Kasten
der Mitte, mit breit ausladenden Flügeln, mit
hoher Predella und durchsichtigem Gestänge
in der Höhe bietet sich dar, an Umfang alles
ringsum überbietend, den hohen Chor bis zur
Wölbung füllend, an Glanz und Farbe herüberstrahlend
über das schlichtere Holz der Chorstühle
und das nacktere Muster des Steinfußbodens
, bisweilen noch im weichen farbigen
Licht der bunten Glasfenster schwebend, gegen
deren sanfte Dämpfung das Gold der knittrigen
Falten als Spiegelung der Wachslichter mit
festem Ton aufglänzt. Mitte, Unten und Oben,
Seite und Rückwand schließen sich klar voneinander
ab. Gebundenes und Entbreitetes,
Bedeutendes und Nebensächliches stellen sich
in Staffelung. Die Teile treten in Beziehung zueinander
. Der geschlossene Altar bietet ein
anderes Gesicht als der geöffnete; vom Alltag
zum Festtag führt die erschlossene Mitte.
Die Legende des Lokalheiligen wird mit der
höheren Heilshistorie verwoben und schließlich
ertönt der chorus mysticus in der höchsten,
reinlichsten Zelle, wenn im hohen Gestänge
Engel auf- und niedersteigen und sich die
goldenen Eimer reichen.
Bei geschlossenen Flügeln, also im Aspekt
des Alltags, sieht man oft das Präludium der
Heilslehre, die Verkündigung an Maria. Diese
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