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UMMAUERTE TERRASSE EINES AMERIKANISCHEN LANDHAUSES
Gerade in solchen Ansichten liegt aber der
deutlichste Beweis, daß das alte deutsche Erbübel
der Formlosigkeit noch ungeschwächt
unter uns lebt. Denn eine größere Verkennung
des Wesens der Form läßt sich nicht
denken. Ihre ungeheure Bedeutung für das
menschliche innere wie äußere Leben bleibt
unbemerkt, ja wird geradezu ins Gegenteil
verkehrt.
Beim Kunstwerk ist die Form das Bestimmende
, ohne die ein Werk gar nicht Kunstwerk
genannt werden kann. Ihr widmet der
Künstler seine ganze Arbeit. Goethe sagt:
„Den Stoff gibt ihm die Welt nur allzu frei-
giebig, der Gehalt entspringt freiwillig aus der
Fülle seines Innern. Aber die Form, ob sie
schon vorzüglich im Genie liegt, will erkannt,
will bedacht sein, und hier wird Besonnenheit
gefordert, daß Form, Stoff und Gehalt sich
zueinander schicken, sich ineinander fügen,
einander durchdringen." Und in der Tat, erst
die Form ist es, die jene geheimnisvolle Gewalt
ausübt, welche jedes wirklich große Kunstwerk
über den Menschen verhängt. Es ist
klar, daß das Hingerissensein, die Erhebung,
das Glücksgefühl, das beim Betrachten beispielsweise
eines Bildwerkes von Michelangelo
ausgelöst wird, allein von der Form herrührt,
denn das Gegenständliche daran, etwa ein
männlicher Körper, eine weibliche Figur, ist
alltäglich. Und von der Musik wissen wir, daß
bei ihr überhaupt der Stoff nicht mitspricht;
Musik ist nur Form. Wollen wir also ein
Kunstwerk schaffen, so wäre dies ohne Beachtung
der Form gar nicht denkbar.
Aber nicht nur im hohen Kunstwerk und
nicht nur in der sogenannten angewandten Kunst,
auch in all unserem sichtbaren Tun und Treiben
ist die Form von höchster Bedeutung. Die
gute äußere Form ist niemals etwas Zugetragenes
, Ueberflüssiges, Nebensächliches. Sie
hat dem inneren Gehalte gegenüber vielmehr
die Bedeutung einer harmonischen Abrundung.
„Das Walten roher Kräfte" wird nach dem
Dichterwort durch sie „zum Gebild gestaltet".
Erst durch die Form wird die geleistete Arbeit
überhaupt erfaßbar, erkennbar, einschätzbar
gemacht. Ohne Form kein Ausdruck, ohne
Ausdruck keine Ueberzeugungsmöglichkeit. Ein
Ding ist also niemals vollkommen, dessen
Form ungenügend ist. „Die Vereinigung der
Wahrheit mit der Schönheit, des inneren Gehaltes
mit dem Reiz der Form ist das Erfordernis
wahrer Vollkommenheit." (Schiller.)
Durch Vernachlässigung der Form begeben
wir uns großer Vorteile, die für uns von ein-
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