http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_47_1923/0094
eigentümlichem Reiz vereint. Nie aber ist die
unbewußte innerliche Einstellung eines spanischen
Künstlers nach Norden so stark, der
Prozentsatz des Nordischen in formaler wie
geistiger Hinsicht so groß gewesen wie bei Goya.
Zwei große Perioden in Goyas Schaffen scheiden
sich deutlich voneinander. In der ersten
arbeitet er mit überkommenem Kunstsprachschatz
. Er spricht diese Sprache mit größter
Geläufigkeit. Für manchen damaligen international
beliebten Begriff fand er die beste
spanische Formulierung. Mit höchster Meisterschaft
wandte er all die Wendungen und Abkürzungen
an, die ein jeder verstand. Dann
aber erfolgt der Umschwung, setzt die zweite,
weit wichtigere, entwicklungsgeschichtlich bedeutungsvollere
wie für den Meister selbst wesentlichere
Periode ein. Es ist eine Wandlung,
die man in mancher Hinsicht mit der im
Schaffen Rembrandts vergleichen kann: ein
entschlossenes Sichabwenden von einer überreifen
, an der Grenze des Virtuosentums angelangten
Kunst, das neue mutige Beginnen
eines Mannes, der die Vierzig längst überschritten
hat (ähnlich wie Marees in neuerer
Zeit, in jüngeren Jahren die Kraft zur Abkehr
von einer an und für sich hochentwickelten
Malerei gefunden hat). Langsam baut sich der
Künstler eine neue, völlig eigene Welt auf.
Und ganz in seine Schöpfung versenkt, mehr
und mehr nur in dieser neuen Sprache redend,
kümmert es ihn von Jahr zu Jahr weniger, ob
man ihn besser versteht oder nicht, ob seine
Sprache geläufiger geworden ist oder nicht. Ja,
das grandios Chaotische, das scheinbar äußerlich
Formlose nimmt mit den Jahren eher noch
zu als ab. Aber dieses „Stammeln" ist von der
gleichen Erhabenheit, wie die dunkel wogende
Musik Beethovens, dessen künstlerischer Werdegang
mit dem Goyas ebensoviel letzte Gemeinsamkeiten
aufweist, wie ihr äußeres Mißgeschick
, das beide Genies taub werden ließ.
Man hat die neue Sprache Goyas Naturalismus
genannt. So gewiß Goya in der Tat der
erste Naturalist des 19. Jahrhunderts war, so
ist damit diese neue Kunst ebensowenig in
ihrem letzten Wesen charakterisiert, wie wenn
man sagen wollte, daß Beethovens späte Musik
gegenüber der des Rokoko ungebundener, naturalistischer
sei. Wie alle ganz großen Revolutionäre
der Kunst greift Goya weit über seine
Zeit hinaus. Seine Schöpfung enthält weit mehr
als der neue Naturalismus, sie begreift, wie wir
schon sagten, die Kunst eines ganzen nachfolgenden
Jahrhunderts in sich.
Das Weltbild des Goya des 18. und jenes
des 19. Jahrhunderts ist grundsätzlich anders
geartet. Es sei dies zunächst an dem Unterschied
in der Flächenhaftigkeit der Malereien
des 18. und 19. Jahrhunderts klar gemacht. Dort
eine scheinbare Weite, außerordentliche Großräumigkeit
, dekorativflächige Andeutung der
Landschaftselemente in Abkürzungen, die jeder
verstand. Die neue Form bringt äußerlich wie
innerlich eine größere Vertiefung, wenn auch
zunächst eine Beschränkung des Raumes, zum
Zweck der Verdeutlichung. Aber dieses neu
gewonnene Weltbild ist nur scheinbar kleiner.
Es ist Goyas besondere Kunst, diesen Mikrokosmos
zu einem Makrokosmos, zum Symbol
einer größeren Welt zu weiten. Das will mit
anderen Worten heißen, daß Goyas hauptsächlicher
Stil nicht ohne weiteres als Naturalismus
und Impressionismus bezeichnet werden
darf, sondern daß sich mit der Kunst naturalistischer
Beobachtung, bei der es auf rasches
Erfassen der dem äußeren Auge sichtbaren
Reize ankommt, eine nicht minder starke, nur
von innerlichem Schauen erfüllte Ausdruckskunst
paart.
Ganz gewiß ist Goya der erste große Impressionist
des ig. Jahrhunderts. Aber seine
entwicklungsgeschichtliche Bedeutung ist nicht
völlig begriffen, wenn man den Künstler nur
in diesem Sinn als einen Neuerer, als einen
Kunstrevolutionär betrachtet. In dem Prospekt
zur Ausgabe der Caprichos hat der Meister in
wenigen, aber völlig ausreichenden Worten das
Programm jener expressionistischen Kunst entwickelt
, die schon vor Goya und auch nach
ihm die auf Geistigkeit und Phantastik eingestellte
Künstlerschaft beschäftigt hat.
Goyas Kunst ist ungemein individualistisch.
Von jener Entpersönlichung, von jener nur
schmückenden mustermäßigen Art, wie sie die
spanischen Künstler als Erben der maurischen
Kultur gepflegt haben, ist bei Goya nichts zu
merken. Wieviel mehr diesen Meistern verbunden
scheint sogar noch die Kunst von
Goyas großem Ahnen Velazquez! Dieser Individualismus
war von jeher besondere nordische
Eigentümlichkeit, und er drückt sich in
der untektonischen Gestaltung des nordischen
Reliefs mit figuralem oder vegetabilem Schmuck
in der Periode des romanischen Stils ebenso
aus, wie in der besonderen Pflege des Impressionismus
und des Expressionismus in moderner
Zeit.
Goya vereint in seiner Kunst seit der Krise
von 1793 stets Impressionistisches und Expressionistisches
. Schon der Bildausschnitt ist
bezeichnend dafür. Es ist nie jenes Betonen
des anscheinend zufälligen „naiven" Ausschnittes
, sondern die Komponiertheit des Bildfeldes,
dessen Randverfestigung doch in einem mehr
klassischen Sinn gegeben ist, als bei den neueren
70
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_47_1923/0094