Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 55. Band.1927
Seite: 254
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_55_1927/0274
Beispiel. Ein Maler will eine Schneelandschaft
malen. Zunächst als Kontrast: wie macht es
der einseitige Maler einer zerrissenen Zeit? Da
ist der Realist, der hinausgeht in das verschneite
Land und nun Einzelstudien macht, er beobachtet
den Schnee, notiert sich, daß die Schatten
bläulich seien, macht Skizzen, kurz er fängt die
Wirklichkeit möglichst genau auf. Was er hinzufügt
(wenn er Geist hat), ist vor allem die
„Stimmung". Die Wirklichkeit wurde aufgenommen
durch den Sehnerv, die Beschaffenheit
des Malerauges ist daher das Wesentlichste
an dem Bilde. „Ein Stück Natur, gesehen durch
ein Temperament", wie die alte französische
Formel laulet. Der Idealist nun andrerseits benuzt
das Schneemotiv lediglich als ein Teil seiner
Seelenwelt. Er malt irgendein reines Weiß, das
aber auch in den Wolken sein könnte oder auf
dem Mond. Ihn interessiert der wirkliche Schnee
kaum, er schließt die Augen und sagt „Schnee"
und hat dann seine Innen-Vision, die nur ein
Ausdruck für Reinheit, Unschuld oder Unendlichkeit
ist. Dieser Maler reißt sich von der Natur
ganz los, berauscht sich ganz an seiner Menschen
-Idee, die das einzig Wertvolle ist im
Kosmos.

So etwa malen die beiden Parteimänner und
Fragmentkünstler. Was tut nun der organische
Vollkünstler, also in diesem Fall der Chinese
der Sungzeit? Er geht ebenfalls hinaus in die
Wirklichkeit des Schnees. Aber er sammelt
nicht Einzelstudien, zerlegt nicht den Eindruck,
schaut den Schnee nicht beobachtend-kritisch
an. Er nimmt das ganze Element Schnee als
großes Erlebnis in sich auf. Diese Elementarmacht
Schnee saugt er völlig in sich auf, er
wandert tagelang im Schnee, er lebt mit dem
Schnee, er fühlt ihn, er atmet in ihm, er wird
ganz und gar ein Liebender, ein Verwandter,
ein Angehöriger des Schnees. Die stärkste
Wirklichkeit erlebt also der Chinese. Aber
diese Wirklichkeit sucht er nicht zu malen.
Bevor gemalt wird, ist ein langer, ganz anderer
Prozeß nötig. Das Erlebnis der Wirklichkeit
Schnee wird in den Schacht des Geistes hineingenommen
, es wird auf das Wesentlich-Seelische
vereinfacht; nur das vom Schnee wird festgehalten
, was ewig ist, was immer wieder der
Kern dieses Erlebnisses sein muß, das Symbol-
Erleben Schnee. Und diese Vorstellung schwebt
mm im Geist ganz frei als Anschauung, so frei
wie ein Traumbild der tiefsten Nacht.
Wirklichkeit und Traum sind in dem nun entstehenden
Bilde völlige Einheit. Die Wirklichkeit
, hineingenommen in die Tiefe, dort umgeformt
zum geistigen Extrakt. Sehen wir uns
nun solch ein Schneebild der Sungzeit an, was
stellt es dar? Da haben wir das Bild des Liang
K'ai: eine Schneewand türmt sich und darüber
der Schneehimmel: unerbittliches Element, das
alles einhüllt. Davor auf verschneitem Pfade
zwei winzige Reiter, die sich fragend ansehen.
Und daneben ein Baum, der Widerstand leisten
wollte und dem die Aste abgeschlagen sind von
der Wucht des Schneefalles. Nur ganz matt
schleicht der Bach noch durch den Schnee. Das
Element Schnee, wie es der Künstler vielleicht
durch jahrelange Erlebnisse in sich symbolisierte
, das steht hier vor uns. Die Wirklichkeit
ist immer noch da in echtester Realität, nirgends
ist irgend etwas Phantastisch-Verzerrtes, alles
das könnte genau so überall auf der Erde vorkommen
, aber trotzdem ist das Ganze Traum,
Musik, Seelenwelt, schwebend leichte, selige
Geistsubstanz. Der Schnee ist daher auch nur
Mittel zu einem Höheren. Der Maler dient
einer Idee, aber keiner blassen, ausgeklügelten,
sondern der Idee, wie sie aus dem realen Erlebnis
sich als Resultat ergibt. Daher könnte man
das Bild auch nennen: das Schicksal, das Notwendige
, die Allmacht der Elemente.
Der Streit zwischen Impressionismus und Expressionismus
, zwischen Realismus und Idealismus
muß hier verstummen. Er ist sinnlos. Denn
dieser Künstler hält beide Seiten in Einheit. Er
steht weit offen dem Außen, läßt einströmen
in voller Flut das Wirkliche, aber dann schließt
er auch fest die Türe des Ich, damit im Innern
der Kristall des Erlebnisses wachse und reife
und sich kläre, bis als Schöpfung dies Neue
dann heraustritt und reinste Idee ist.
Es ist dies das Ziel der Malerei und unsere
Künstler müßten von ihrem Boden aus zu derselben
Stufe sich erheben. Aber das geschieht
nicht durch Debatten und Theorien. Die Vorbedingung
ist: man muß eben ein ganzer, heiler,
organischer Mensch sein. Man muß beide Pole
umfassen und die gewaltige Schöpferkraft in
sich haben, um das Außen umschmieden zu
können im Innern, so daß ein Drittes entsteht,
welches beides enthält, sowohl das weiteste, echteste
, sinnlichste Außen, wie auch den Abgrund,
die Magie, das Geheimnis der Tiefe.
Hier liegt die Lösung: du mußt erst ein vollkommener
Mensch sein, wenn du vollkommene

Kunst Schaffell willst. Rudolf von Delius

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