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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1954-04/0003
Die Markgrafschaft

Nr. 4/6. Jahrgang

Monatszeitschrift des Hebelbundes

April 1954

iDec Dercatec

Man kann von J. P. Hebel gewiß nicht behaupten
, daß er mit Schadenfreude über andere
Menschen urteilt und voreilig über sie den Stab
bricht. Im Gegenteil, es ist die oft bewunderte
und unnachahmliche Eigenart seiner Erzählungen
, selbst im heruntergekommenen Menschen
noch den Funken des Guten und Anständigen zu
entdecken und sich zum Anwalt der bürgerlich
Verachteten und auf die schiefe Bahn Geratenen
zu machen. Aber für den Einen, den Judas
Ischariot, hat er eigentümlicherweise nicht ein
Wort der Entschuldigung übrig, an ihm läßt er
keinen guten Faden mehr und verdammt ihn in
seinen „Biblischen Erzählungen" in Grund und
Boden. Er ist ihm schier der leibhaftige Satan
selbst oder doch der vom Teufel widerspruchslos
in Beschlag Genommene und darum rettungslos
von ihm Besessene. „An ihm ist nichts mehr zu
schonen", sagt er mit einem leisen Vorwurf gegen
den Versuch Jesu, den Verräter beim heiligen
Mahl von seinem entsetzlichen Vorhaben zurückzuhalten
. Ja, Hebel versäumt es nicht, jeweils bei
der bloßen Nennung des Namens Judas ein entehrendes
Beiwort anzufügen: „Der finstere Geselle
", „Der Bösewicht", „der Tückische und Verworfene
", als wolle er drei Kreuze schlagen vor
dem Ischariot wie vor dem Leibhaftigen selbst.
Ja, Hebel hält es nicht einmal für der Mühe
wert, dies stufenweise, aber unaufhaltsame Abgleiten
des Judas aus der Freundschaft in die
Gegnerschaft gegen seinen Meister und somit in
beider Verderben aufzuzeigen, sondern der
Ischariot ist für Hebel der von vornherein zu
dieser Tat Prädestinierte und erscheint durch
seine unselige Veranlagung a priori als der böse
Dämon um Christus. Nur noch einmal in seinen
Dichtungen kommt bei Hebel eine ähnliche Gestalt
vor: der Michel im „Karfunkel", dessen
Charakter und Handlungsweise eine auffallende
Ähnlichkeit mit dem Judas hat und dessen Ende
darum auch unumgänglich der Selbstmord ist.
Bei dem tragischen Ausgang des Lebens bei
Judas zieht Hebel den Schluß: „Solchen Gewinn
brachte ihm sein Frevel", und merkwürdigerweise
wiederholt der Erzähler diesen Satz — wie
mit erhobenem Zeigefinger — sofort nochmals
in der Gegenwartsform: „Solchen Gewinn bringt
der Frevel".

Hebel weiß also sehr wohl — und dies im
Gegensatz zu den Aufklärern seiner Zeit — von
der Anfälligkeit mancher Menschen für diesen
verheerenden Bazillus des Bösen. Und wenn er
auch dies Verfallensein an die finstere Macht nur
für wenige Menschen als möglich ansieht, er
unterläßt es doch nicht, mit diesem Doppelschlußsatz
seine Leser und vor allem die Kinder,
für die ja diese biblischen Erzählungen in erster

Linie geschrieben sind, eindringlich zu warnen.

Ich habe schon einmal in der „Markgrafschaft"
vor zwei Jahren Hebels Begründung für das
„Temperament" des Judas und sein hinterhältiges
Handeln zitiert, er sieht sie nämlich in der
„Unfähigkeit des Judas für stille, reine, herzliche
Freuden, in der Ungeschicklichkeit für frohen,
vertraulichen Umgang, für Herzensfreundschaft
und Liebe". Sollte uns diese Beurteilung nicht
sehr zu denken geben? Sollten wir uns nicht sehr
diesem Judas verwandt fühlen in unserem
Mangel an stiller, reiner, herzlicher Freude?
Müssen wir uns nicht an die Brust schlagen,
wenn da hingedeutet wird auf diesen Mangel an
Herzensfreundschaft? Sind wir moderne Menschen
mit unserem dauernden Zeitmangel und
der daraus, folgenden Lieblosigkeit nicht geradezu
dafür prädestiniert, aneinander zu Judassen zu
werden? Wo haben wir Menschen der ununterbrochenen
Mißverständisse und des Ärgers übereinander
eigentlich noch Kraft zur Freude aneinander
, aus der allein wir leben können?
Denn aus all dem Ärger, wie ihn ein Judas an
seinem Meister erlebt hat, kommen wir wie der
Judas zur Hinterhältigkeit, zur Unaufrichtigkeit
gegeneinander — und das ist ja schon Verrat
aneinander. Welche ungeheure Aufgabe tritt da
an uns heran, wenn wir uns Freunde Hebels
nennen wollen! Wie müßten wir es selbst wieder
lernen, Freude aneinander zu finden und zu
behalten, uns gegen alle ansteckenden Bazillen
der Menschenfeindschaft und Gleichgültigkeit
immun zu machen und auch andere Menschen
wieder zu lehren, nicht mehr sich in Verärgerung
voneinander abzusetzen und einander
herabzusetzen, sondern mit der vorurteilsfreien
Freude an allem Gottgeschaffenen, wie ein
Hebel — oder auch eines Albert Schweitzer —
uns wieder neu zu finden. Und wie nahe sind
sich gerade darin diese beiden. Es war mir das
Beglückendste bei unserem Besuch bei Albert
Schweitzer, zu erleben, wie dieser unendlich vielbeanspruchte
alte Herr Zeit für uns hatte und
eine solch lautere und aufrichtige Menschenfreundlichkeit
ausstrahlte* die sofort ansteckend
wirkte, und ich mußte denken: so muß es auch
— nach allen Augenzeugenberichten — in Hebels
Umgebung und Umgang gewesen sein. Und so
sollte es auch bei uns Hebelfreunden werden;
diese Freude aneinander wäre die sicherste Abwehr
gegen die verheerende Pest des Menschenhasses
und aller unheimlichen Intriguen, in die
wir uns verstricken lassen. Denn den Judas zu
spielen, ist ja nicht nur der Mord am Mitmenschen
, sondern an uns selbst. Freude aber und
Freundlichkeit sind Leben und Glück.

Richard Nutzinger


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