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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1954-06/0003
Die Markgrafschaft

Nr. 6 / 6. Jahrgang

Monatszeitschrift des Hebelbundes

Juni 1954

Don btn fingen um une

Viel gescholten und vielfach durchlitten präsentiert
sich dem nachdenklichen Zeitgenossen
die erste Hälftp des 20. Jahrhunderts, das sich
anschickt, beim Übergang in die zweite Hälfte
zum Atomzeil^alter zu werden. Bereits: heute
erweckt das Wort Atom, ein Begriff, mit dem
unsere Väter noch nichts anzufangen wußten, in
jedem Schulkind „eine gräßliche Vorstellung.
Zwischen Angst und Hoffnung lebend, vom
Umgetriebensein unseres eigenen Treibens an
Herz und Geist verbraucht, friert unsere Generation
in der Unverbindlichkeit unserer Gesellschaft
, die weder zu lieben noch geliebt zu werden
scheint. Umgeben von den ungeordneten,
auf kein Ende zugeordneten Dingen unserer
Zivilisation erleben wir in den wenigen Minuten,
da wir noch Zeit finden, in die tieferen Schichten
unseres Daseins hinabzusteigen, die miserable
Situation, so wie sie ist, mit allen ihren Fragwürdigkeiten
, ihrer öffentlichen Lüge, ihren
Scheinlösungen, ihrer Vortäuschung an Wirklichkeit
, ihren entseelten mechanisierten Dingen,
die wir nicht lieben, von denen wir auch keine
Bestätigung in unserer menschlichen Existenz
erwarten können, die aber fortgesetzt unser
Geschlecht zum Narren machen. Das Erleben
dieser Situation ist nicht allen bewußt, und nur
wenige finden Name und Ausdruck für das tiefe
Unbehagen, das als dumpfes Gefühl in den
Massen vorhanden ist. Die wenigen aber, auf die
es ankommt, — und wir meinen, daß jeder, der
aus innerer Zustimmung zum Freundeskreis um
Hebel gekommen ist, dazugehört — diese wenigen
aber dürfen nicht den Mut verlieren, aus
der keineswegs unterbrochenen Strömung des
Geistes christlich - humaner Prägung Kraft zu
schöpfen für das Dennoch, für das Trotz-Allem,
für das Bereitsein, Trost zu geben und Trost zu
empfangen, unter welchen Erschütterungen auch
immer die Erkenntnis gewonnen wird, jene
Erkenntnis, daß man zu hoffen hat wider alle
Hoffnung.

Nun gibt es gewiß kein Rezept, das von uns
hier zu verkaufen wäre wie eine Art Heldendroge
, die in modernen italienischen Märchen
eine Rolle spielt. Gewiß auch steht hier nicht
uns die letzte heilende Funktion zu, sondern den
Theologen und jenem kleinen Raum in den
gefalteten Händen, in dem die Begegnung mit
dem Schöpfer geschieht. Wir wollen uns hier
bescheiden und nur auf etwas hinweisen, was
unserer Meinung nach mit eine der Vorbedingungen
zur Befriedung unseres Daseins darstellt
. Wir meinen hier unser Verhältnis zu den
Dingen, die uns täglich umgeben: das Haus, ein
Kleid, ein Schrank, ein altes Bild, ein Gefäß, ein
irgendwie geartetes Behältnis unserer Menschlichkeit
.

Vor fünfzig Jahren hat ein deutscher Dichter,
der überaus sensible Rainer Maria Rilke, schon
ganz früh gespürt, daß sich im Verhältnis dieser
Dinge zu uns eine Änderung anbahne. Er spricht
es an einer Stelle aus, als er mit einem ersten
Entsetzen feststellt, daß „von Amerika her
Schein-Dinge zu uns dringen, Lebens-Atrappen".
Noch für unsere Eltern, meint Rilke da, seien
diese Dinge, wie wir sie oben zu einem ganz
kleinen Teil angeführt haben, noch voller Leben,
ja ein Stück ihres Lebens gewesen; jetzt aber
seien sie tote Sachen. Rilke hat zweifellos nicht
viel Bestimmtes vom amerikanischen rationellen
Lebensstil gewußt. Daß man dort fast nur mit
dem Geldwert der Dinge rechnet, daß die Dinge
dort ihren Wert mit dem Verschleiß der Verchromung
verlieren, wußte er nicht aus eigener
Anschauung. Aber zu seiner Zeit hat kaum ein
anderer so deutlich intuitiv gespürt, wie die
Entwicklung gehen würde. Und wenn wir uns
heute ehrlich sind, dann müssen wir gestehen,
daß der Vormarsch amerikanischen Lebensstiles
schon längst über die großen Städte hinausging
und heute sich bereits im letzten vergessenen
Tal unserer Heimat ausbreitet. Damit wir nicht
mißverstanden werden: wir denken nicht daran,
die Erfindung des Fernsehens etwa als die Wurzel
allen Übels anzusehen. Auch nicht die Atombombe
. Aber wir denken daran, daß wir stetig
den kleinen Raum unseres persönlichen Daseins
zurückstecken müssen, daß uns bald nichts mehr
bleibt in der Konfektions-Umwelt, in der wir
ein menschliches Rest-Dasein fristen. Auf jenen
kleinen Innenraum, in dem die Dinge für uns
lebendig sein sollten, lebendige Hfeimat, Quell
der Lebenskraft und des Lebenstrostes, auf jene
Kammer, die wir mit Leben anfüllen sollten,
kommt es uns hier an. Man darf hier nicht entgegnen
, daß es viele Menschen gebe, die ihr
Steckenpferd haben. Wir meinen hier nicht
Briefmarken- oder Schmetterlingsammlungen.
Wir meinen jene Dinge, die eine
stille Strahlung von Wärme und
Beheimatetsein auf uns ausüben.
Mit denen wir reden können, bei
denen wir das Nachleuchten vergangenen
Lebens erleben dürfen,
die uns lebendige Wesen sind.

Von hier aus, so meinen wir, müsse eine
Heilung ausgehen. Von hier aus auch müßte
alle Arbeit des Hebelbundes beginnen. Denn
zur heilsamen Korrektur unseres Verhältnisses
zu diesen Dingen ist Ehrfurcht notwendig,
jene ordnende Kraft, deren Fehlen eine Welt
zerstören kann, weil mit ihrem Fehlen auch
das Maß verloren geht, auf das kein einziger
von uns ohne Lebensgefahr verzichten kann.

L. B.


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