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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1957-01/0011
der Bauchwand, um dem Patienten zu erklären,
hier könne keine Trinkerheilanstalt, hier könne
nur das Messer des Chirurgen noch Abhilfe
schaffen. Jedoch verbürge der hohe Stand der
heutigen Operationstechnik den Erfolg eines solchen
Eingriffs.

Die Klinik nahm ihn noch am gleichen Tage
auf. Er unterschrieb seine Einwilligung zur
Operation, benannte seine Krankenversicherung
und als nötigenfalls zu benachrichtigende Person
Tula, die Eigentümerin einer Schießbude. Die
Klinik verlor keine Zeit, die Operation vorzubereiten
. Der Professor, ein Meister seines
Faches, begnügte sich bei der Untersuchung mit
den wenigen Griffen, die einem Pianisten beim
Überprüfen der Stimmung des Flügels vor dem
Konzert genügen. Alles andere besorgte die zuverlässige
Werkgemeinschaft.

Bald baumelte zu Häupten des Bettes das
Krankenblatt mit der Kopf schritt: ,,Marinelli,
Artist, 40 Jahre alt, katholisch; Tag der Aufnahme
2. Mai".

Ein Magen, der als toter Sack in der Bauchhöhle
liegt, bedarf mancherlei Nachhilfe, um
wieder zu Spannung und Tätigkeit zu gelangen.
Dank eiserner Energie schaffte es Marinelli in
acht Tagen. Lästig wurden ihm nur die Magenspülungen
, die sich im Baderaum abspielten.
Obwohl Welt-Schluckmeister, sogar für Flüssigkeiten
mit Einlage, fiel ihm dieser Vorgang so
schwer wie allen anderen Opfern, die dabei im
Arm einer hilfreichen Ordensschwester das Bild
eines Büßers von tiefster Erbärmlichkeit bieten.

Am Abend vor der Entscheidung schluckte
Marinelli auch den Vorschlag zur Bereinigung
dessen, was den Seelenmagen bedrückte. War es
die Freude am Gelingen eines lange gehegten
Vorhabens, das ihn den Pater darum bitten hieß,
ihm zum Beistand einen möglichst unbekannten
und darum wenig überlaufenen Heiligen zu
empfehlen? Ein Begehren, das dennoch den
Beichtvater nicht am Bemühen hinderte, dem
verbummelten Sohn der Kirche die Heimkehr zu
erleichtern.

Am Morgen beruhigte der Narkotiseur mit
einer Einspritzung die Nerven des Patienten und
belebte mit einer zweiten den Blutkreislauf. Im
Schwung hinausgefahren, im Lift hinauf zum
Operationssaal, dessen Flügeltüren auf die befohlene
Sekunde sich öffneten. Man schob ihn
vorläufig in den Hintergrund. Dort bemerkte er
nur den Stich in eine rollende Vene des linken
Armes, öffnete auf Geheiß noch halb den Mund,
und während der Schatten der Maske mit Lachgas
sich ihm näherte, hörte Marinelli auf, er
selbst zu sein.

„Du armer Schlucker", empfing der Professor
den ihm Unterbreiteten, „nun werden wir dir
wohl dein Aquarium wegräumen müssen!" Ein
Schnitt mit dem Opfermesser öffnete einem
Museumsstück von Magen die Bauchhöhle, und
während eines tiefen Schöpfungsschlafes entstand
aus Dünndarm der Kindermagen eines
Menschen, vierzehn Tage danach fähig, wieder
Wurstsalat zu verspeisen, nie jedoch mehr Goldfische
aufzunehmen, es sei denn in öl, als Fastenspeise
.

Kaum glaubhaft dem, der ihn daliegen sah,
bleich, fast ohne Atem, Marinelli, dem in Gestalt
des Narkotiseurs der Kuckuck des Schöpfungsmorgens
unermüdlich ins Ohr rief: „Schnaufet-
Se-doch, - verstehet-Se-mi-nit? - schön schnaufe".
Aber der Willensmensch Marinelli fühlte sich
außerstande, auch nur mit der Wimper zu zuk-
ken, noch den Wunsch zu erfüllen, wenigstens
den kleinen Finger zu bewegen.

Da, plötzlich, kehrte dennoch der Geist in
sein Eigentum zurück, während die Ohren
schlapprig, als wären es die Löffel eines Hasen,
unter emsigen Händen zu klarinettieren begannen
.

Wie wonnig! Hätte der erwachende Wille sich
erfüllt, hätte das erste Wort nach der Wiedergeburt
„danke" gelautet, das zweite darum gebeten
, das angenehme Spiel fortzusetzen. Doch verfiel
er noch einmal der ihn auslöschenden Fin-
sternis, nachdem der Geist schon des unverweslichen
Lichtes teilhaftig geworden war, von dem
das Evangelium des Johannes spricht.

Als er trotzdem wieder, genau wie vordem,
Mensch wurde, stand Tula vor ihm, um ihn als
erste an diesem neuen Lebensmorgen zu begrüßen
.

„Tapfer bist du deinen bösen Magen losgeworden
", beglückwünschte sie ihn, auch im Namen
der Artistenloge.

„Meinen Beruf ebenso, denn fortan bin ich
keine Nummer mehr", antwortete Marinelli matt.

„Fängst doch von neuem an, freu dich doch!
Wer wird so mutlos sein, zumal du nur fünfhundert
Gramm fremdes Blut gebraucht hast,
wie der Professor sagt, Blut einer jungen Studentin
, die es spendete".

„Armes Luder, höchstwahrscheinlich um Geld
ihr abgehandelt. — Sind noch Goldfische da, ich
meine von denen, die zuletzt öffentlich mit mir
auftreten durften?"

Tula gab zu, ihrer fünf oder sechs als Andenken
beiseite gebracht zu haben. Welche Frau
brächte es übers Herz, den Faden zu kappen, an
dem ein Kinderhändchen einen Luftballon hält?

„Gut, bring' sie der Unbekannten mit Dank
und Gruß von mir, erklär' ihr auch den Sinn des
Geschenkes!"

„Soll sie haben, samt der Büchse mit den
Ameiseneiern", willigte Tula ein, nicht ohne leise
zu weinen, was Marinelli übersah. Denn schon
umdämmerte es ihn wieder.

Zwischen den Jahren

Frostklare Neujahrs-Morgen-Einsamkeit! —
Kaum, daß ein Meisenzwitschern, heU und schlicht,
Mit kindhaft holdem Locklaut unterbricht
Die weiße Glitzerstille weit und breit...

Und gleich dem Baum, dem Strauch im Winterkleid,
Das mit kristallner Strenge sie umflicht,
So ruht die alte Mühle, tief verschneit.

Entwich das wache Leben dieser Stätte,
Und konnte das geduld'ge *Rad erstarren,
Das Brotfrucht mahlende, das stets getreue?

Gemach! — Wie Eimer, schwebend an der Kette,
Im Wechsel zwischen Auf und Ab verharren,
So hier: bald kreist des Lebens Rad aufs neue!

Ernst Sander

9


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