Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 4688,fm
Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
39.1977, Heft 1/2.1977
Seite: 163
(PDF, 42 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1977-01-02/0165
zu Hebels Studentenzeit hinein, so erhält man zugleich manchen grundlegenden
Aufschluß für bekannte Erscheinungen in Hebels Verhalten während der Lörracher
Zeit; für Erscheinungen, die man nach Hebels eigener Wortprägung unter dem
Namen Proteusertum und Belchismus zusammenfaßt. Hebel, in allzulangem
Warten auf feste Anstellung mißmutig und existenzunsicher geworden, weil in der
Hoffnung auf Fortkommen immer wieder getäuscht, suchte damals Ersatz für
das vergebliche Angestrebte in der Freundschaft — und dies in einem ordensähnlichen
Gefüge. Dabei schlugen die Erlanger Erinnerungen wuchernd aus. Was in
Erlangen Landsmannschaft gewesen, wird in Lörrach zur fiktiven Kleingemeinde
mit Vogt, Stabhalter und Bammert, — was dort der Amicistenorden war, wird
hier zum Proteuserorden. Die halb spielerische, halb ernsthafte Dogmatik des
Proteusertums, grundgelegt im Jahr vor der Versetzung Hebels nach Karlsruhe,
hat Hebel dann in Karlsruhe — sozusagen posthum! — im „Almanach des Proteus
auf das gnadenreiche Jahr 1" — so der Titel — erst niedergeschrieben. Diesen
Almanach, eine Handschrift von 37 Blatt, hat Pietzsch ebenfalls veröffentlicht.
Das aufschlußreiche Schriftstück umfaßt mehrere Teile: Zunächst die „Proteische
Zeitrechnung", sodann die „Grundstriche des Proteischen Lehrsystems", drittens
ein „Verzeichnis der berühmtesten Proteologen älterer und neuerer Zeiten".
Die Proteische Zeitrechnung beginnt mit dem Jahr 1790/91 als dem Jahr Eins,
offenbar dem Gründungsjahr des Proteuserbundes. Das Jahr ist in 13 Zyklen oder
Triaden eingeteilt, die z. T. mit proteischen Namen belegt, z. T. nach jahreszeitlichen
Vorgängen und Tätigkeiten benannt sind: sie heißen etwa: Storchenzyklus
oder Mostzyklus, o. ä. Die „Grundstriche" gliedern sich in drei Teile: Vom
Proteus — von der Welt — vom Menschen. Es ist eine Art negative Seinsphilosophie
, entwickelt nach dem Satz vom Widerspruch, und durchgeführt analog einer
Schrift von Christian Wolff; sie beginnt mit dem Satze: „Eh etwas war, war
Nichts". Das Nichts wird Proteus genannt, nach dem antiken Gott der Gestaltlosigkeit
und des dauernden Sichwandels. Zweifellos steckt viel Ernstes in den
„Grundstrichen", doch auch ebensoviel schlitzohrige Ironie, die sich einmal gegen
sich selbst — d. h. gegen die wirtschaftliche Misere des Daseins als Präzeptorats-
vikar wendet, — die aber andererseits auch die Prätension der Aufklärung verspottet
. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Proteusischen Lehrsystems wird
die Ironie immer offenkundiger, ohne daß jedoch der Ernst des Ansatzes gänzlich
aufgehoben würde.

Figur und Begriff des Proteus sind für die Psychobiographie Hebels deshalb
so wichtig, weil Proteus geradezu eine Schlüsselfigur von Hebels Lebensauffassungen
und Naturfrömmigkeit darstellt. Wie sehr, hat die Freiburger Dissertation
von Hans Gerhart Oeftering: Naturgefühl und Naturgestaltung bei den alemannischen
Dichtern von Beat L. Muralt bis Jeremias Gotthelf (erschienen 1940) eindringlich
dargetan. Vor allem in einem Exkurs, in dem Oeftering Hebels hochdeutschen
Hymnus „Ekstase", der in den Jahren 1792'93 entstand, ediert und nach
der formalen wie der inhaltlichen Seite kommentiert hat. Den Anstoß zur Abfassung
des Hymnus sieht Oeftering gegeben in „Hebels Flucht aus der Welt seiner
Sorgen auf die hohe Kuppe des Belchen". Der Belchen, aus Hebels Briefen als Altar
des Proteus bekannt, ist das irdische Symbol für das Herausgehobensein aus der
kleinen Umwelt. „Beldüsches Gefühl" nennt Hebel selbst im Hymnus umschreibend
den ekstatischen Zustand, in dem er sozusagen die Weltschöpfung restrospektiv
miterlebt. In diesem Zustand nimmt er teil am „heiligen Cosefelicet", d. h. an der
Causa felicitatis, der visionären Feier, die dem ewigen Nichts — eben dem
Proteus — von den „schwebenden Geistern dargebracht wird". Das Wort Cosefelicet
gehört zu jenen Wortverdrehungen bzw. teils griechischen, teils lateinischen
teils hebräischen Wortentlehnungen, die Hebel etwa gleichzeitig mit den „Grundstrichen
" in einem „Wörterbuch des Belchismus" zusammenstellte; man erkennt
darin unschwer eine Nachblüte der studentischen Ordens-Geheimsprache. Den
Höhepunkt des großen Cosefelicet bildet die „große Stille", das Symbol des
großen Nichts. Oeftering gibt auch eine Analyse der sich dem Hymnus zeigenden

163


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1977-01-02/0165