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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
53.1991, Heft 2.1991
Seite: 88
(PDF, 32 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1991-02/0090
dürfen?" (S. 95 f). Diese herkulisch anmutende Selbstbekundung stellt eher einen ethischen
Imperativ dar denn eine lösbare Aufgabe, und sie kontrastiert gehörig mit jenen Ängsten, die
er einem Freund von Freiburg aus eingestand: "Du wirst begreifen, daß ich mit einem sehr
bangen Gefühl nach Lörrach zurückfahre, da ich keine Möglichkeit sehe, diesen furchtbaren
Konflikt zu lösen, noch weniger eine solche, ihn zu ertragen" (S. 106).

Je deutlicher Raphaels Erfahrungen diesem die Unlösbarkeit und Unaufhebbarkeit des
Widerspruchs zwischen Militarismus auf der einen. Sittlichkeit und schöpferischem Wesen
auf der anderen Seite zu Bewußtsein bringen, desto mehr wird seine Zuversicht zunichte, er
werde seine "Pflicht gegen den Staat und meine innere Berufung" (S. 90) doch noch
miteinander vereinen können. Es wird für ihn zur Gewißheit, daß wir nur "die Wahl zwischen
der Würde unserer Menschheit und dem System des Militarismus haben" (S. 89). Der Begriff
"Menschheit" fällt hier nicht zufällig: Raphael nennt ihn "die höchste Gemeinschaftsidee"
(S. 132) und stellt ihn folglich über das Nationale - erscheint ihm doch die gegebene
historische Situation durch jene "Verkettung von Umständen" charakterisiert, "in denen eine
Aufopferung fürs Vaterland eine Sünde an der Menschheit ist" (S. 174). Denn, so fragt er,
"was will denn dieses Vaterland? Sich selbst erhalten, indem es alle seine Bürger hinmordet,
seine Würde als moralisches Wesen preisgibt, sich als Rechtsstaat aufhebt? Und wenn dieser
ganze unerhörte Preis wirklich nur dafür gezahlt wird, daß dieser Staat größerer Macht
habhaft wird, daß der Reichtum einzelner und der Materialismus aller noch stärker
aufwuchert? Wird dann dieses Erdulden nicht zum Verbrechen?" (S. 90 f.)

So hat sich bereits innerhalb der ersten Monate seines Militärdienstes in Raphael eine
Spannung aufgebaut, unter der er innerlich zu zerbrechen droht. "Stillgestanden! Augen
rechts! Schon duckt sich der Gedanke und das Gefühl, die eben noch lebendig waren. Im
Gleichschritt marsch!" (S. 108) - diese Art zu leben bedeutet Raphael "qualvoll verzehrendes
Leiden" und "ganz auf das Affenmäßige in sich beschränkt zu werden" (S. 115). Die
permanente geistige Unterforderung - "Fünf Tage hätten statt der fünf Wochen genügt, um
mir die tatsächlichen Kenntnisse mitzuteilen, in deren Besitz ich heute bin" (S. 110) - und
die Deformierung der Persönlichkeiten, die der militärischen "Ausbildung" ausgesetzt sind,
lassen ihn erkennen, daß "Vaterlandsverteidigung...doch nur eine der staatsbürgerlichen
Pflichten und der Militarismus eine ihrer möglichen Formen (ist). Und...nicht die
zweckmäßigste sondern die schädlichste" (S. 110).

Der Möglichkeiten, die Widersprüche und Spannungen geistig zu verarbeiten und
produktiv zu machen, waren für Raphael nicht viele. Zu ihnen gehörten einige wenige
Kameraden, das Tagebuch (es ungestört zu führen und arbeiten zu können, hatte sich Raphael
in der Nähe seiner Dienststelle ein Zimmer gemietet) und - die Landschaft. Für Raphael, so
Hans-Jürgen Heinrichs in seiner Einleitung zu den "Lebens-Erinnerungen", spielte "die
Naturerfahrung eine große Rolle: sie entläßt ihn aus der erdrückenden Sphäre von Militarismus
und Alltag, in ihr fühlt er sich dem Leben nahe'" (S. 11). Doch Raphael konnte sich die
Umgebung seiner neuen Lebensstation zunächst nicht aneignen, weil sie ihm verstellt schien
durch ihren Charakter als militärisch genutztes Gelände. Charakteristisch seine Eintragung
vom 19. August 1915: "Morgens 6 Uhr antreten zum Ausrücken. Exerzieren auf dem
Schützenplatz, der eine Aussicht aufs Wiese- und Rheintal bietet. Die duftige Zartheit der
frühen Morgenstunde erfüllte mich, aber schon schrie es wieder: Gewehr auf! Gewehr ab!,
und tötete das erste neue Leben, das mich hier erfüllte, so daß mir den ganzen Tag ein bitterer
Schmerz mitging" (S. 70). Raphael, dessen Bodmaner Aufzeichnungen sein überaus
intensives, mitunter fast durch Anverwandlung gekennzeichnetes Verhältnis zu Natur und
Landschaft bezeugen, scheinen die ersten militärischen Erfahrungen der Natur entfremdet
zu haben: von einem Ausflug ins Markgräflerland zurückgekehrt, notierte er: "Der Weg
führte quer über den Tüllinger Hügelrücken, auf dessen Höhe, der sogenannten Luke !. sich

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