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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
57.1995, Heft 1.1995
Seite: 176
(PDF, 34 MB)
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macht und nicht nur von den übrigen Menschen, sondern selbst von den
frömmelnden und spielenden Lammesjüngern sicher unterscheidet. So einer,
dachte ich, ist dieser Mann - und ich wäre gern auch so einer".

Bevor Hebel also Jung-Stilling kennenlernte, kannte er dessen Bücher. Das oben
zitierte "Heimweh" hatte er längst pflichtbewußt gelesen: eine mühsame Lektüre, wie er
seinem Freund Hitzig Ende September 1800 zu berichten weiß: "Es wäre mir eine
interessante Lektüre, wenn ers entweder kürzer gefaßt, oder änderst bearbeitet hätte.
Aber eine Allegorie durch 4 starke Oktavbände durchgewunden! Die christlich religiöse
Durchführung des Menschen zu seiner Bestimmung im Reiche Christi, dargestellt in der
Heimreise eines Heimwehkranken, über Frankfurt, Augsburg, München, Wien. Ungarn,
Sclavonien, Constantinopel, Egypten, über die Landenge, nach Sinai, Jerusalem, wo er
sich in den unterirdischen Tempelhallen mit der Urania (himmhsche Wahrheit) ehlich
vermählt, und dann mit ihr und einer zahlreichen Gesellschaft auf Cameelen weiter in den
Orient hineinreiset. - Unterwegs hat er viele Versuchungen und Verfolgungen auszustehen
von der Frau von Traun (per anagramma Natur) und Fräulein Nischlinn (Sinnlich),
wird aber immer bewahrt, bald durch den Bruder seiner Braut Theodor Josias von Edang
(Gnade) bald durch seinen Freund und Begleiter Trevemau (Vertrauen) oder durch den
Beldergau (der Glaube) etc. Ich bin am 3ten Teil und bekomme bald das Endweh".

Wenn Sie nun von diesem Zitat her wieder zurück auf den "Wächter in der
Mitternacht" schauen, zeigt es sich, daß in diesem Gedicht zwei Ideen zusammengekommen
sind. Das Heimweh Hebels nach dem Wiesental findet seine Entsprechung
im Heimweh des Nachtwächters nach seiner geistigen Heimat, die er nach dem Tod
erreicht. Es ist das gleiche Thema, das bei Jung vier Oktavbände füllt und bei Hebel
in einem Gedicht Platz findet. Jung-Stillings Held zieht durch die halbe Welt und
erlebt viele Abenteuer. Hebels Nachtwächter schreitet durch den Friedhof, erlebt
kaum etwas und hält einen inneren Monolog. Nun hätte natürlich ein wirklicher,
einfacher Nachtwächter keinen inneren Monolog in Gedichtform gehalten. Aber
Hebels Gedicht nimmt als Mittel zum Verständnis den Dialekt. In der Umgangssprache
kann er schwierige philosophische Gedankengänge einfach ausdrücken, während
Jung-Stilling zum gleichen Zweck komplizierte Einkleidungen braucht. Hebels
eigenes Heimweh nach dem Oberland läßt sich in dieser vordergründig einfachen
Form in das höhere, geistige Heimweh transformieren, ohne daß Anpassungen nötig
wären, weil die Sprache doppeldeutig ist.

Wenn wir den zitierten Brief lesen, ist es, als ob wir Hebel über die Schulter schauen
könnten, während er den "Wächter in der Mitternacht" schreibt. Vielleicht hat er sich
gedacht: "Lieber Jung-Stilling, Du hast ja so recht mit deinem Heimweh. Ich habe
Heimweh nach meinem Wiesental, aber gleichzeitig spüre ich auch, wie die meisten
Menschen, diese Sehnsucht nach einer vollkommeneren Welt in mir. Es ist wahr, wir
alle träumen von einer besseren Welt und glauben an ein helleres Licht. Dieses ist uns
in der Bibel nach unserm Tod versprochen, und wir dürfen daran glauben. Es wäre
wichtig, dies allen Menschen klar zu machen. Aber vier Oktavbände mit so merkwürdigen
Allegorien, wer soll das schon lesen? Das muß man besser machen".

Und Hebel machte es besser.

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