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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
53. Jahresband.1973
Seite: 101
(PDF, 57 MB)
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Gefaßtheit der Andachtsbilder wenig mehr zu tun. Sie nähern sich ihrerseits einem Bild
aus dem Stundenbuch des beginnenden 15. Jahrhunderts, das die Bibliotheque Nationale in
Paris aufbewahrt (Nr. 9771); darauf schildert der „Meister der Heures de Rohan", wie
die von Johannes umfaßte Maria in ohnmächtigem und ungebändigtem Schmerz auf die
entblößte, zu ihren Füßen ausgestreckte Leiche Jesu zu stürzen, ja: sich zu stürzen droht.
Dies ist, neben dem erwähnten Passionsspiel, eine zweite Parallele zur Dramatik des Rastatter
Büchleins.

Von hier aus ließen sich so manche Verbindungslinien ziehen zur spezifisch spätmittelalterlichen
Frömmigkeit als eines Niedergangs der alten Formen und Inhalte (doch zugleich
auch eines Neubeginns); wobei das besondere Milieu jener Paulinereremiten eine
Rolle spielen mag. Sie nämlich waren in der Abgeschiedenheit ihres Waldklosters (am
Südwestrand des Schönbuch bei Herrenberg) nach Gesinnung, Raum und Zeit von der
Welt der großen Mystiker weit entfernt, die einst noch das innerste Seelenleben darzustellen
versucht hatten.

Der hier veröffentlichte Text belegt in exemplarischer Weise, wie solches durch Umsetzung
in dramatische Aktion verflacht und veräußerlicht wurde. Deshalb muß man
ihn noch einmal mit einem anderen konfrontieren, der der „klassischen" Pietä viel näher
steht, mit der Fortsetzung des bei früherer Gelegenheit angeführten Zitats aus Heinrich
Seuses, des Konstanzer Dominikaners, „Büchlein der ewigen Weisheit". Die eigentliche
Marienklage hat dort folgenden Wortlaut: „we, we! Wa wart ie kein mensch uf ertrich
so übel gehandlet, als daz unschuldig gemint kint? Owe, min kint, min trost und min
eingü vroede, wie hast du mich gelazen! Wie bist du mir so gar verkeret in bitterkeit!
Wa nu vroede, die ich hate von diner geburt, wa der lust, den ich hate von diner minnek-
lichen kintheit? Wa du ere und wirdikeit, die ich hatte von diner gegenwürtikeit? War
ist alles daz komen, daz herz ie gefroewen mochte? Owe, angest und bitterkeit und herzleid
! Es ist doch nü alles verkeret in ein so grundlos herzleid und in einen toetlichen
smerzen! Owe, kint mins, Owe min kint, wie bin ich nu so lieblos! Wie ist min herz so gar
trostlos worden!"8

Auf eben diese Klage, vorgetragen mit bemerkenswerter psychologischer Einsicht in den
Zusammenhang von Inhalt und Form, Erlebnis und Sprache („So minü kleglichü wort
zuo dem munde kamen, so wurden sü von we underzucket, daz sü unganz bliben"9),
antwortet der Mystiker: „Reinü muoter, wie grundlos din herzleid were und wie reht
inneklichen es ellü herzen bewegen muge, so dunket mich doch, daz du noch neiswaz
lustes fundest in den minneklichen umbevengen dines toten kindes. Owe, reinu zartü
frowe, nu beger ich, daz du mir din zartes kint in der toetlichen angesiht bietest uf die
schoze miner sele, daz mir nach minem vermugenne geistlich und in betrahtunge werde,
daz dir do wart liplich. (...) Herr, minii ogen durschowent din totlichez antlüt, min
sei durküsset alle dine vrischen bluotigen wunden, alle min sinne werdent gespiset von
dieser suezen vruht under disem lebenden bome des krüzes."10. Besser wäre die Haltung
visionärer Identifikation nicht zu kennzeichnen, die im andächtigen Betrachter hervorzurufen
der Zweck jeder Pietä war.

Eine derartige Differenzierung des Gefühls und damit der Worte, in denen es sich kundtut
, ist ein Gewinn des Minnesangs, und sie unterscheidet den frühen Text vom späten,
trotz aller Abhängigkeit, ablesbar etwa an dem hier wie dort als Leit- und Schlüsselbegriff
figurierenden „Herzen". Gleichermaßen akzentuiert das bei Seuse folgende XX.
Kapitel „Von der jemerlichen schidunge von dem grabe" statt der äußeren Vorgänge die
inneren.

8 Karl Bihlmeyer (Hrsg.), Heinridi Seuse: Deutsche Schriften. Stuttgart 1907, S. 275 f.
» Ebda., S. 275.
10 Ebda., S. 276.

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