Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 519,m
Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
53. Jahresband.1973
Seite: 238
(PDF, 57 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1973/0240
Aus Schutt und Asche, Blut und Tränen ist also der Boden zu denken, über dem
der große Kruzifixus sich erhebt; als Trümmer- und Gräberfeld vertritt der Dorfkirchhof
gleichnishaft das ganze Land. Derartige Erfahrungen finden Niederschlag
und Dauer in den künstlerischen Zeugnissen der Zeiten, besonders deutlich
als das je sich Ändernde in den tradierten Bildformeln. Eine solche ist auch das
Zeichen des Kreuzes, das vom triumphierenden Christus der Romantik über den
leidenden Christus der Gotik immer die Signatur seiner Epoche trägt. Doch was
hier nun Gestalt wurde, ist nicht das Kreuz als Königsthron oder Marterpfahl,
eben nicht das Bild des Siegens oder Leidens und Sterbens, sondern des Gelitten-
Habens und Gestorben-Seins, des Todes: Imago Mortis. Es liegt paradoxerweise
etwas Friedliches darin, wie wenn der Friede einer am Leben verzweifelten
Generation nur noch in einem christlichen Tod sich hätte finden lassen.
Davon kündet das sehr ausdrucksvolle Haupt Christi, das mit dem flächigen,
von den blockhaft-massiven Kreuzbalken wenig abgehobenen Korpus seltsam zusammengeht
. Dieser ist (mit den verkürzten muskulösen Armen, dem geringen
Relief des Brustkorps) gänzlich die ungefüge, auch unproportionierte Arbeit eines
unbekannten Steinmetzen, wie es deren viele gibt, kaum der Rede wert; jenes aber
ein Meisterwerk. Offenbar hat der Meister, wie vor allem die ornamental behandelte
Haar- und Barttracht ausweist, an älterer Kathedralplastik sich orientiert.
Dieses Zurückgreifen auf Vorbilder — das 1467, also genau zwei Jahrhunderte
früher entstandene, durchaus vollendete Baden-Badener Friedhofskreuz des Nikolaus
Gerhaert von Leyen sogar noch ignorierend — hat einen doppelten Aspekt:
nicht nur zeigt es den konservativen Zug anonymer Volkskunst, welche stilistische
Neuerungen erst verspätet sich aneignet und dann lange bewahrt; es zeigt vielmehr
auch, wie eine Zeit verfahren mußte, in der kaum das Leben der Menschen ein
Auskommen hatte und das der Kultur gar keins.

Jedoch, und hier ist das Gesagte einzuschränken, das Antlitz selbst entzieht sich
jeder voreiligen Zuweisung an traditionelle Vorformen. Indem es eine neugefundene
Mitte hält zwischen dem Ausdruck des Leides und dem des Sieges, derart zwischen
dem gotischen und dem romanischen Typus (so ungerecht diese Verallgemeinerung
dem Einzelnen gegenüber auch sein mag), erfüllt es aufs genaueste
und überraschendste die Definition der Hegeischen Ästhetik: „Ernst und Tiefe
des Bewußtseins muß in solchen Köpfen sich aussprechen, aber die Züge und
Formen des Gesichts und der Gestalt müssen ebensowenig von nur idealer Schönheit
sein, als sie zum Gemeinen und Häßlichen abirren oder zur bloßen Erhabenheit
als solcher sich erheben dürfen."3 Das ist gewiß ein entlegenes und anfechtbares
Zitat, das da zur Erklärung und Bewertung der Skulptur — darum geht
es — herangezogen wird; aber wenn Hegel gleich anschließend von der bildnerischen
Aufgabe als einer schwierigen spricht, wobei sich „vornehmlich die Geschicklichkeit
, der Sinn und Geist des Künstlers hervortun"4 könnten, dann
muß dies dem Werk des Unbekannten, der sie löste, viel bedeuten.

3 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Ästhetik. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Mit einer Einführung von Georg

Lukäcs. Bd. I. 2. Aufl. Berlin und Weimar/Frankfurt am Main o. J., S. 516.
* Ebd.

238


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1973/0240