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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1976/0062
widersprüchliche Werden der menschlichen Persönlichkeit, mit all ihren Qualen
und Konflikten, darstellten.

Grimmelshausen, der das Elend und die Verwüstung, die der 30jährige Krieg
brachte, mit eigenen Augen sah, der selbst seine Folgen erlebt hatte, reagierte
teilnahmsvoll auf den Schmerz und die Leiden des Volkes, erfaßte seine Erwartungen
und Hoffnungen, wies auf die Übel und die Unordnung des zeitgenössischen
sozialen Systems hin, obwohl er eine Lösung der in seinem Bewußtsein
auftauchenden Fragen nicht finden konnte. Und er schlug dafür nicht
irgendeine allheilende utopische „Panazee" vor. Mit bitterem Lachen bloß betrachtete
er das um ihn herum geschehende Böse, die Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit
.

Reinen Herzens wie Parsival, tapfer und ungestüm wie Don Quichote, strebt
der junge Simplicius, der noch nicht das ganze Böse und die Ungerechtigkeit
der Welt, die ganze Widersprüchlichkeit zwischen den verkündeten und offiziell
gepredigten ethischen Prinzipien und der Realität erkannt hat, selbstlos
danach, der Welt ins Gewissen zu reden und sie zur Vernunft zu bringen, als
sei diese grausame und törichte Welt mit ihren Lastern, ihrer Eitelkeit und
ihrem Hochmut von ihm zum ersten Male erblickt worden. Bald, sehr bald
erkennt er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, und die Welt fällt unerbittlich
über ihn her, verschlingt ihn und unterwirft ihn sich, weil Simplicissimus
seiner Natur nach kein Asket, kein Prophet und kein Prediger ist. Er ist ein
einfacher Mensch mit allen dem Menschen eigenen Schwächen. Doch während
er durch alle Leiden und Unbeständigkeiten des Daseins geht, bewahrt er die
Reinheit seines Herzens, bleibt gut, fröhlich und lebenslustig. Er geht mit
leichtem Schritt durch die Welt. Er sagt den Menschen nur lachend die Wahrheit
, die sie vergessen haben, und wird nicht zum trockenen, faden Moralisten.
Das macht den Charakter des Simplicissimus so bezaubernd und menschlich.

Grimmelshausen schuf eine großartige künstlerische allgemeingültige Darstellung
seines schweren und grauenvollen Zeitalters. Dazu sammelte er alle ihm
zugänglichen künstlerischen Ausdrucksmittel seiner Zeit und vereinte sie,
nachdem er sie umgeformt hatte, und bereicherte sie mit tiefem aktuellen und
philosophischem Inhalt. Er wandte sich wissenschaftlicher Literatur und allegorischem
Schrifttum zu, aber er wurde kein „Bücherwurm". Das Buch trennte
ihn nicht vom Leben, sondern vertiefte sein Verständnis, erlaubte ihm, sich
zu weiterer künstlerischer Abstraktion zu erheben. Er brandmarkte und verurteilte
nicht nur die blutige Grausamkeit des Krieges und seine Sinnlosigkeit
und Unnötigkeit für das Volk. Er wies auf den unheilvollen und demoralisierenden
Einfluß des Krieges auf die nachfolgende Generation hin, auf die
moralische Verwilderung und Verödung der Kultur. Er erhob sich zum Bewußtsein
allgemein menschlicher und ethischer Probleme, der Notwendigkeit,
nach der moralischen Rechtfertigung des Daseins zu suchen, und drückte das
als Künstler aus.

Wenn sie den „Simplicissimus" lesen, erkennen die Menschen mehr oder weniger
deutlich, daß fast in jedem von uns der junge Simplicius schlummert, der
die traurige kindliche Verwunderung gegenüber dem Schlechten und der Ungerechtigkeit
der Welt erlebt. Darin liegt die unvergängliche Bedeutung dieses
genialen Werkes.

(Übersetzung: Annemarie Birke)

1 A. A. Morozow. Die Reise des Simplicius Simplicissimus nach Moskovien, in: Ost und West in der
Geschichte des Denkens und der kulturellen Beziehungen. Festschrift für Eduard Winter zum 70. Geburtstag
. Berlin 1966. S. 143—151.

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