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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1976/0104
Das Gezeigte ist mit dem Gesagten identisch, ist nichts als dessen Reproduktion
im anderen Medium; der Illustrator war (wohl auch mangels
eigener Anschauung) dem Autor aufs treueste zu Diensten. Aber in einem
wichtigen Punkt ging er doch über seine Vorlage hinaus: das Licht, das
die seltsame Tischgesellschaft beleuchtet (und in Umkehrung der konventionellen
Zeichentechnik schaffen hier ja die von der abschattenden
Schraffur ausgesparten, hellen Stellen das Bild) — dieses Licht fällt
durch ein gotisches Kirchenfenster herein. Mit solch einem Anachronismus
wird die barocke Szenerie verfälscht und zugleich in tieferem Sinne
bewahrheitet; insofern nämlich eben jene Szenerie nur verständlich ist im
Lichte der mittelalterlichen Religiosität, die im Barock wieder auflebt:
Sibylla Augusta, eine späte Erbin der Mystik.

So kommt durch dieses ins Barock versprengte Mittelalter, durch diese
kleine Unwahrheit also auf paradoxe Weise doch noch eine große Wahrheit
zum Vorschein. Sie aber in der Unwahrheit des Ganzen; denn gewiß
kann die gesamte — wörtliche wie bildliche — Darstellung vom Vorwurf
der Entstellung nicht freigesprochen werden; vielleicht jedoch, daß in
dieser Entstellung, als einer Karikatur, die Physiognomie der Dargestellten
um so deutlicher hervortritt.

Es ist hier gut zu sehen, wie die Neue Welt die Alte sah, weil (und dazu
hilft das europäische Bild im amerikanischen Spiegel) „fern, abseitig oder
hoch Vertragenes, indem es wieder zurückscheint und so verstanden wird,
realistischer sein kann als Naturalismen".4

1 Vgl. Johannes Werner, Mark Twain auf den Spuren der Markgräfin. Ein Einblick ins Barock. In:
Die Ortenau 55 (1975), S. 222—227.

2 A Tramp Abroad; illustrated by W. Fr. Brown, True Williams, B. Day and other artists — with
also three or four pictures made by the author of this book, without outside help; in all three
hundred and twenty-eight illustrations. By Mark Twain (Samuel L. Clemens.) Hartford, Conn.:
American Publishing Company. Chatto & Windus, London. 1880.

3 „Imagine it: Those rigid, shock-headed figures, with corpsy complexions and fishy glass eyes, occupy-
(BILD)-ing one side of the table in the constrained attitudes and dead fixedness that distinguish all
men that are born of wax, and this wrinkled, smouldering old fire-eater occupying the other side,
mumbling her prayers and munching her sausages in the ghostly stillness and shadowy indistinctness
of a winter twilight." (Ebda., S. 206).

4 Ernst Bloch, Entfremdung, Verfremdung. In: E. B., Literarische Aufsätze (= Gesamtausgabe Bd. 9).
Frankfurt/M. 1965, S. 277—284; hier S. 278. — Ein Nachtrag auch noch zur Bibliographie jenes
früheren Aufsatzes: Rudolf Sillib, Schloß Favorite und die Eremitagen der Markgräfin Franziska
Sibylla Augusta von Baden-Baden (= Neujahrsblätter der Badischen Historischen Kommission NF 17).
Heidelberg 1914, bes. S. 63—65, 72 f. Ein Hinweis darin wirft noch einmal ein Schlaglicht auf den
an früherer Stelle, und am Beispiel der Markgräfin, so ausführlich demonstrierten Zusammenhang von
Antithetik und Theatralik des Barock: wenn es nämlich heißt, daß diese Herrscherin nicht nur gelegentlich
das Gewand der Büßerin trug, sondern schließlich — bei ihrer Bestattung — auf eigenen
Wunsch auch das einer Religiösen im Bettelorden (S. 16, 73). So wurde erneut geistlich gegen weltlich,
niedrig gegen hoch, arm gegen reich gesetzt. Und so erscheint eine tiefsinnige Beziehung zwischen
Bußkleid und Totenkleid, Bußkapelle und Grabeskirche: die Buße (oder Abtötung) der Sibylla Augusta
erweist sich als Vorspiel zum letzten Akt, ihrem Tod.

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