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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1976/0203
Eine Verteidigung der Ortsnamen

Von Johannes Werner

Leitwort, nach Joseph Roth: „S. besteht nicht mehr, lange nicht mehr.
Es bildet heute mit mehreren umliegenden Gemeinden zusammen eine
größere Ortschaft. Es ist, wie man weiß, der Wille dieser Zeit. Die Menschen
können nicht allein bleiben. Sie schließen sich in sinnlosen Gruppen
zusammen, und die Dörfer können auch nicht allein bleiben. Sinnlose
Gebilde entstehen also. Die Bauern drängt es zur Stadt, und die Dörfer
selbst möchten justament Städte werden." 1

Die baden-württembergische Gemeindereform ist nunmehr abgeschlossen;
ihr Ergebnis ist zweifelhaft. Zu fragen wäre etwa, wie die Verwaltung
dem Bürger nun sich darbietet: ob sparsamer oder aufwendiger, ob näher
oder ferner, ob in Gestalt von Personen oder Apparaten. Doch dies sind
Fragen des Politikers; der Historiker stellt andere.

Im Zuge dieser sogenannten Reform haben rund 2300 Orte ihre Selbständigkeit
aufgegeben und sind in größeren aufgegangen; 2 ihre Namen
sind abgegangen oder zumindest außer Gebrauch gekommen, haben zugunsten
von Ziffern abgedankt. (War, beispielsweise, „Goldscheuer" nicht
schöner, poetischer als „Kehl 16"?) Damit wurde die fortschreitende Ver-
zifferung der Welt wieder ein Stück weiter getrieben; fast besteht man,
wie jedes auszufüllende Formular lehrt, nur noch aus Zahlen, und muß
sich wundern, daß man noch einen Namen und nicht schon eine Nummer
trägt. Die Inhumanität dieser Praxis ist offenbar.

Aber auch deswegen sind die Ortsnamen zu verteidigen, weil sie Geschichtsdenkmäler
darstellen, nicht anders als irgendwelche Bauwerke —
und weil sie, wie diese, in Gebrauch bleiben müssen, um erhalten zu
bleiben; was aber seine Funktion verliert, verfällt und wird vergessen.
Und der Vergessenheit verfällt so die Geschichte des Ortes, die der Name
aufbewahrt: in diesem wird der Etymologe oft nicht weniger fündig als
der Archäologe an jenem. „Die Namen gleichen Petrefakten, welche nur
der deuten kann, der mit dem Auge seines Geistes in die Tiefen der Erde
dringt; sie gleichen eingeritzten Runen, die zwar lebendige Zeugen längst
verschollener Tage sind, deren Sprache aber nur jenen Wenigen verständlich
ist, die (...) aus dem Becher des höheren Wissens geschlürft.

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