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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
71. Jahresband.1991
Seite: 335
(PDF, 143 MB)
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kranke Frau des Fessenbacher Heimburgers Leitermann besucht und ihr
vorgerechnet: „Ein neuer Pfarrherr bringt neue Kosten! Alle Weingartener
müssen Hand- und Frondienste beim Bau eines Pfarrhauses ableisten!"

Die Taktik Schwendemanns ging auf. Leitermann rannte von Haus zu Haus
und erzählte natürlich die Botschaft sofort weiter. Die Haushaltsvorstände
vergaßen schnell ihr Begehren und stimmten gegen einen eigenen Pfarrer.

Worin liegt die Bedeutung jener Episode? Wir können leicht erahnen, wie
stark sich die bäuerliche Vorstellungswelt von der Anschauung der aufgeklärten
Beamtenschaft unterschied. Wir spüren die große Verachtung, mit
der die Offenburger Beamtenschaft gegenüber dem Volk auftrat. Ihr anfängliches
Eintreten in der Weingartener Angelegenheit diente letztendlich der
Durchsetzung eigener finanzieller und machtpolitischer Interessen. Die
Vorstellung, daß die betroffenen Menschen das gleiche taten und bei ihrer
Entscheidung ebenfalls auf ihr eigenes materielles Wohl schauten — die
Schaffung einer neuen Pfarrei bedeutete für sie tatsächlich höhere Kosten
—, wollten die Beamten nicht gelten lassen.

Die Loslösung Weingartens von der Mutterkirche Hl. Kreuz ging im Jahr
1787 weniger auf das Verlangen der Gläubigen als auf die Verfügung Kaiser
Josephs II. zurück.

Frömmigkeit ist kein ahistorischer, ewig statischer Begriff, der den ländlichen
Menschen schicksalhaft mit der Tradition verband. Frömmigkeit und
Sittlichkeit unterstehen einem zeitbedingten Bedeutungswandel.

Der Versuch, Frömmigkeit oder Sittlichkeit zu messen, um damit Bevölkerung
und Gesellschaft nach moralischen Kriterien zu beurteilen, ist unmöglich
.

„Unterschied sich die Frömmigkeit des mittelalterlichen Menschen, der
etwa stets mit dem Tod durch Massenepidemien konfrontiert war, von der
des barocken Menschen, der den Dreißigjährigen Krieg zu überleben hatte

( _) 7"69

Erinnert sei an die Worte des französischen Historikers Marc Bloch:

..Ohne daß sich der Forscher dessen bewußt ist, werden ihm die einzelnen Fragen, die er
an die historischen Quellen stellt, von Erfahrungen diktiert, die sich ihm in Form von Bestätigungen
oder Zweifel dunkel eingeprägt haben; sie werden ihm diktiert von der Tradition
und vom allgemeinen Menschenverstand, was allzu oft heißt: von den allgemeinen Vorurteilen
."70

Dieser Vorwurf trifft auf den Begriff „Sittlichkeit" besonders zu. Historiker
haben sich oft angemaßt, über Frömmigkeit und Sittlichkeit einer Generation
von Menschen zu richten und benutzten dabei, wissentlich oder
nicht, ihre eigenen Moralmaßstäbe als Richtschnur oder machten sich kritiklos
die Denkweise der Herrschenden zu eigen. Sie produzieren letztendlich
historische Wirklichkeiten, wo kritische Distanz von Nöten wäre.

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