http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1992/0374
Schöpfung): von außen dringt es über das Medium der bunten Fenster hinein
in den sakralen Raum. Auch dem Glas kommt hier plötzlich eine tiefe
symbolische Bedeutung zu, es ist das Medium des Lichtes.
Nur vom Innern der Kirche aus sind die Fenster sichtbar, nur von dort können
sie gesehen, gelesen und entschlüsselt werden.
Das Lesen der Fenster
Jeder Passus der Bibel wurde im Gesamtzusammenhang gesehen und interpretiert
. Das Alte Testament erfüllt sich im Neuen, Früheres bezieht sich
auf Späteres:
„Kein Text ist hinreichend ausgelegt und gewürdigt, wenn er nur für sich,
nur nach seinem Buchstaben - (oder historischen) Sinn verstanden wird. Im
Wechselbezug zu anderen Texten der biblischen Schriften ist der übertragbare
Sinn zu suchen, im interpretationsbedürftigen Wort der ihm latent inne
wohnende übertragene Sinn freizulegen und schließlich die über den Buchstabensinn
hinausgreifende allegorische Deutung, der geistige Sinn der
Schrift zu formulieren"31.
Der vieldeutbare Inhalt der kirchlichen Texte mußte dem Laien also erschlossen
werden. Daß das Kirchenvolk den Sinn ohne theologische Ausbildung
und ohne exegetische Erfahrung von sich aus hätte erkennen können
, ist mehr als zweifelhaft.
„Wir wissen aus Klerikeranweisungen des 13. und 14. Jahrhunderts, daß
vor den szenen- und figurenreichen Bildzyklen der Glasfenster kirchliche
„Führungen" stattfanden; sobald eine Gruppe von Gläubigen beisammen
war, hatte ein Diakon die Bildzusammenhänge der Fenster und ihren geistigen
Sinn in einer teils kommentierenden, teils homiletischen (predigenden)
Form auszudeuten"32.
Kurz: Die Glasfenster wurden erläutert. Dazu bedurfte es eines verbindlichen
Deutungsmusters, das der Kleriker sich angeeignet hatte. Die symbolische
Existenz des grünen Lichtstrahles war über den Weg der Bildung
vermittelt worden. In der Literatur jener Zeit ist die Erklärung für seine
Deutung zu suchen. Literatur aber war religiöse Literatur, war zuletzt immer
wieder die Bibel.
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