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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
84. Jahresband.2004
Seite: 52
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Rita Breit

mehrmals überholt. Auch zu Neugründungen geführt. Und vielleicht auch
zu einer Renaissance des liberalen Judentums in Deutschland. Denn unter
den Neugründungen sind auch liberale Gemeinden. Ein lebendiger jüdischer
Pluralismus wie in England und Frankreich - wird er fruchtbaren
Boden finden, um in einem zunehmend säkularen Europa zu gedeihen?

Auch die mittlerweile elf jüdischen Gemeinden Badens sind aufgeblüht
und gedeihen.4 Die neuen Familien brachten eine erfreulich komplette Alters
- und Generationenpalette mit, ihre Lebendigkeit, Bildung und Kultur,
Herzenswärme, Papyrossi und Pelmeni, ihre Freuden, ihre Sorgen. Das
Kinderlachen.

Moskau. Odessa. Kiew. Sankt Petersburg. Die riesigen Metropolen des Ostens
. Akademiker und Großstädter sind diese jüdischen Zuwanderen Intel-
ligenzia. Ihr Alltag war geprägt vom Eng-Aufeinanderhocken mehrerer Familien
in den sozialistischen Kommunalwohnungen. Oh gewiss: daraus allein
mag sich schon die gewaltige Sehnsucht entzünden nach einer größeren
Leichtigkeit des Seins.

Wir wurden gedrückt, weil wir Juden sind.

Im kommunistisch-atheistischen System erzogen und aufgewachsen,
„wo die Religion etwas Fremdes war"5, hatten sie ihre Identifikation mit
dem Judentum vor allem durch Diskriminierung wahrnehmen müssen.
Zeitweise Studienbeschränkung z. B. für Medizin, Physik; Berufsbeschränkung
für jüdische Akademiker; staatlicher Antisemitismus-Antizio-
nismus. Nicht allein durch die Tschernobyl-Katastrophe 1983 war das
Land vergiftet. Die Perestrojka setzte außer Hoffnungen auch Gewalt frei.
Und neuen Antisemitismus. Gerüchte über mögliche Pogrome kursierten,
verdichteten sich - waren sie staatlich gelenkt? - 1990 kam es in Tadschikistan
zu Ausschreitungen.6

Alles hat seinen Moment, heißt es. Und mitunter gräbt der sich unver-
gesslich ins Gedächtnis ein. Lebenslang. Jener Moment etwa, in dem Menschen
begreifen müssen, dass es höchste Zeit wird, zu fliehen.

So erzählte mir ein Ehepaar aus Sankt Petersburg (promov. Ingenieur
, Betriebswirtin), wie es 1992 - schon mit dem Gedanken an
Ausreise im Kopf - auf dem größten Platz der Stadt an eine Versammlung
geriet, deren Redner in aller Öffentlichkeit dazu auffordern
konnte, alle Juden umzubringen. Der Platz war umstellt von
Milizen; keiner von denen machte auch nur die geringsten Anstalten,


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