Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 519,m
Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
87. Jahresband.2007
Seite: 537
(PDF, 115 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2007/0537
Forum

537

org Nierlin (1839-1927) sowie die Laienheilerin Christine Duchilio (1888-1972)." In der
ländlichen Bevölkerung des Harmersbachtals sind ebenfalls zahlreiche Erinnerungen an
verschiedene Heilerpersönlichkeiten („Sympathiedoktoren") überliefert. Zu diesem Kreis
gehörte der in Nordrach geborene und vom Knecht zum „Wunderdoktor" aufgestiegene
Bernhard Benz (1867-1930). Dieser wirkte seit den 1890er-Jahren im Tal und weit darüber
hinaus, der Legende nach durch Konsultation eines „Zauberspiegels". Über den „Professer
Benz", der später in seinem eigenen Gasthaus in Zell am Harmersbach Sprechstunden abhielt
, existierten in der regionalen Bevölkerung unzählige Erzählungen.12 In der gleichen
Region wirkten über viele Jahrzehnte hinweg der „Hättichsbur" oder „Biliersberger" Wilhelm
Pfundstein (1820-1903)13, danach sein 1951 verstorbener Enkel Josef Breig I. („de alt
Dokter") und zuletzt bis 1981 sein Urenkel Josef Breig II. („Dokter Sepp") als Laienheiler
.'4 Ein weiterer Heiler, der geradezu Völkerwanderungen aus dem mittelbadischen Raum
in Richtung seines Bauernhofes auslöste, war Jakob Friedrich Morlok (1835-1910) aus
Baiersbronn-Mitteltal im Murgtal. Seine Lebens- und Wirkungsgeschichte findet derzeit
durch einen spektakulären Fund verstärkte Beachtung. Ihm folgten ebenfalls Sohn und Enkel
als Laienheiler nach.15 Als wohl bekannteste Heilerpersönlichkeit in der Region in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann der „Schloofer" Julius Seiler (1906-1972) aus Ottenheim
gelten, der seit 1920 ein halbes Jahrhundert lang von unzähligen Menschen konsultiert
und schon früh durch den „Lahrer Hellseherprozess" von 1927 republikweit bekannt
wurde.16 Enorme Besucherströme löste schließlich Mitte der I970er-Jahre Josef Weber
(geb. 1945), der „Wunderheiler von Schutterwald", aus. Sein Wohnsitz in Schutterwald geriet
über mehrere Monate zum Anlaufpunkt für Scharen von Heilung suchenden Patienten.
Eine Analyse der Geschehnisse um den „Wunderheiler" hat ergeben, dass die ausschließliche
Beurteilung Josef Webers als Geschäfte machender Scharlatan das damals auftretende
Massenphänomen nicht umfassend zu erklären vermag.17 Es wäre zu untersuchen, ob das
vermehrte Auftreten von Heiler-Persönlichkeiten im mittelbadischen Raum ein regionalgeschichtliches
Spezifikum darstellt.

Zukünftig sollen weitere, bislang noch unbekannt gebliebene Personen aus dem Bereich
der unorthodoxen Heilmethoden sowie aus anderen als „paranormal" beurteilten Kontexten
ausfindig gemacht werden. Die Beschäftigung mit den Lebensgeschichten sowie der jeweiligen
konkreten Praxis solcher Grenzgänger und Sonderlinge kann im besten Fall Erkenntnisse
über Eingliederungs- oder Marginalisierungsprozesse sowie Mentalitäten oder Positionierungen
der umgebenden Gesellschaft liefern. Es bietet sich deshalb an, vorhandene
Strukturen im Rahmen einer konzentrierten regionalgeschichtlichen Erfassung zu betrachten
. Dabei kann auf vergleichbare Forschungen zurückgegriffen werden, vor allem im vielfältigen
Bereich der Laienmedizin. Diese hat schon in den 1970er-Jahren der Theologe
Ebermut Rudolph auf regionalgeschichtlicher Ebene in einem breiteren Rahmen
untersucht.18 Eine weitere größere Referenzstudie liegt mit einer Dissertation der Volkskundlerin
Anita Chmielewski-Hagius über Oberschwaben vor.19

Worin bestanden die tatsächliche Fähigkeiten, aber auch die sozialen Funktionen dieser
Menschen? Wie sah konkret ihre Handlungspraxis aus, welche Methoden wandten sie an?
Waren sie tatsächlich randständig oder wurde ihr Wirken vielleicht sogar als selbstverständlicher
oder notwendiger Bestandteil der Alltagskultur angesehen ? Wie wurde jemand zum
„Hellseher" oder zum „Wunderheiler"? Waren es lebenslange oder nur kurzfristige „Karrieren
"? Wie reagierte das lokale Umfeld, wie die Behörden, die Wissenschaft?

Die Abteilung Kulturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Studien des IGPP
ist deshalb sehr interessiert daran, weitere Biographien aus der Region Mittelbaden/Ortenau
in Erfahrung zu bringen, zu dokumentieren und vergleichend zu analysieren. Auf diese
Weise wäre es möglich, lokal- oder regionalgeschichtliche Kenntnisse in einen größeren


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2007/0537