Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 37
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III. Kenzingen

Erster Tagebucheintrag

Einige Tage nach seinem letzten Brief aus Köndringen vom 8. Oktober 1943 wird Jose Caba-
nis mit fünfzehn Kameraden nach Kenzingen gebracht, wo er erst sieben Monate später, am 1.
Mai 1944, Tagebuch über seinen Aufenthalt in Kenzingen zu führen beginnt. Bis zu diesem
Zeitpunkt erlebte er, wie der Krieg in der Stadt mehr und mehr den Alltag bestimmte: Ausgebombte
und Bedrohte aus deutschen Großstädten suchten Unterschlupf; Gefangene, Deportierte
, Fremd- und Zwangsarbeiter aus Polen, Russland und Frankreich, sowie Kenzinger
Frauen und Mädchen arbeiteten auf Feldern und in Rüstungsfabriken; immer häufiger trieben
Bombergeschwader die Bewohner in Keller und Schutzgräben. Noch war die erste Bombe
nicht auf Kenzingen gefallen, aber jeder ahnte, dass Verwüstung und Tod bevorstanden.

Erstaunlich optimistisch philosophierend und realistisch gefasst meistert der 22-jährige Jose
diese lastende Bedrohung und seine missliche Lage: Er beginnt sein Tagebuch mit:
1. Mai Kenzingen-im-Breisgau, Deutschland.

Man ist nie überzeugt genug, daß es unnütz und dumm ist unglücklich zu sein. Es gibt keine
Situation, die zwangsläufig Unglück mit sich brächte. Die Abwesenheit von Papa und Mama
würde genügen, mir das Leben hier zu vergällen, und wenn dies nicht wäre, dann würden meine
Arbeit und meine ganze gegenwärtige Lage ebenfalls ausreichen, mich an allem verzweifeln zu
lassen. Aber wozu nützt es, unglücklich zu sein? Unglück hat nichts Schönes oder Edles. Es ist
gut, wenn man sich das sagt. Man sage sich nicht (wie X.), daß „wir unglücklich sind". Man
denke vielmehr, daß man es nicht sein soll.m In der Tat gibt Jose hier ein weiteres Beispiel für
sein bereits in Köndringen betontes Bestreben, den Kopf hoch zu halten und sich nicht
unterkriegen zu lassen.

Dann aber wechselt er unvermittelt zu einem völlig neuen Thema, indem er fortfährt: Es ist
verrückt, wegen Anna zu leiden. Wenn sie auch einige körperliche Vorzüge hat (ich untertreibe:
sie ist bildhübsch), müssen mir ihre Bildung, ihre Gesinnung und vor allem das, was uns
trennt, - und wäre es auch nur die Sprache - untersagen, ihrer Gegenwart, der Gewißheit ihrer
Gefühle für mich usw. zuviel Bedeutung zu schenken, wo ich doch übrigens absolut bereit bin,
ihr untreu zu werden, was auch schon geschehen ist. Es gilt, so gleichgültig wie möglich die
Augenblicke abzuwarten, in denen ich sie sehe, und diejenigen, in denen sie mir fehlt, ebenfalls
für mich zu nutzen. [...] 81 Jose kommentiert hier eine anscheinend nicht befriedigende Liebesbeziehung
und überlegt sich eine Strategie für sein zukünftiges Verhalten. Ein für sein Alter
nicht ungewöhnliches Problem, das in Köndringen offensichtlich überhaupt nicht bestand,
beschäftigt ihn und wird ihn auch während seines ganzen Aufenthaltes in Kenzingen nicht
mehr loslassen.

Im Augenblick jedoch wendet er sich wieder der inneren Haltung zu, die er für seine Lage als
Fremdarbeiter im Feindesland für lebenswichtig hält: Nicht überlegen, was ich in fünf Minuten
machen werde oder was ich eben jetzt hätte tun können. Wenn ich lese, dann wird gelesen,
wenn ich ausruhe, dann gilt es, alles zu vergessen. Bin ich alleine, heißt es davon profitieren,
nicht jammern. [...] Nicht immer das, was ist, mit dem Besseren, das sein könnte, vergleichen.
Ein Vergleich ist so gut wie der andere. Ich bin in Deutschland, ich könnte in Frankreich sein,
auch in Rußland. Ich muß ankämpfen gegen die Angst, die vielleicht der Kern meines Wesens

Cabanis, Les profondes annees, S. 200.
Ebd., S. 200 f.

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