Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 47
(PDF, 30 MB)
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Zweifel und Angst - Glaube und Glück

Die Alliierten, am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet, hatten die Eindringlinge in schweren
Gefechten nach und nach zurückgedrängt, und am 25. August 1944 war auch Paris befreit
worden. Der große Rückzug der deutschen Truppen begann. Jose sah abgekämpfte, ausgelaugte
Einheiten durch Kenzingen ziehen. Für Frankreich näherte sich der Krieg dem Ende; nur
der Rhein schien Jose und seine Kameraden noch von der Freiheit zu trennen. Doch bald wich
ihre Hoffnung dem Eindruck, dass sich dort an der Grenze der Kampf stabilisierte und sie
fürchten mussten, dass man zur Verteidigung des deutschen Bodens neue Kraftreserven mobilisieren
und neue Waffen entwickeln könnte, die vielleicht nicht den Sieg bringen, sondern sie
mit großer Wahrscheinlichkeit tot unter Trümmern begraben könnten.

Wie berechtigt diese Befürchtung war, erfahren die jungen Franzosen am 9. und 10. September
1944, als sie zum ersten Mal in unmittelbare Todesgefahr geraten: Kenzingen wird aus der
Luft angegriffen. Jose durchlebt Zustände panischer Angst, flach auf dem Bauch im Gras
liegend oder sich in einem Hohlweg regungslos gegen die Lösswand pressend, während über
ihm Jagdflieger kreisen und Bordwaffen und Bomben auf den Bahnhof, die Schienen, Häuser,
Heuwagen auf den Wegen, Bauern auf dem Feld richten. Jose fühlt sich nicht mehr als
Mensch: Er ist ein Tier, ein gehetztes Wild, das vor Angst vergeht. Und er macht die Erfahrung,
dass angesichts des Todes alle rationalen Einsichten, alles, was ihn seine Intelligenz gelehrt
oder zumindest, was sie als falsch erkannt hatte, keinen Bestand hat. Und da liege ich, die Nase
im Gras, und sage Gebete auf wie das 'Vater unser', das 'Ave-Maria' und 'Bußgebete'. Ich,
Jose'!'"* Seit seinem Umzug nach Kenzingen fehlen alle Hinweise auf seine in Köndringen
gelebte Frömmigkeit. Im Gegenteil, er zweifelt an Gott und lehnt die Religion, mit der er
aufwuchs, ab. Aber hier, in Todesgefahr, betet er. Fünfzehn Jahre christlicher Erziehung, und
man ruft den Himmel an, wenn einem der Tod im Nacken sitzt.109 Für Jose beginnt eine
qualvolle Zeit des Schwankens zwischen Glauben und Unglauben.

Sobald ich wieder bei Sinnen bin, scheint alles wieder in Ordnung zu kommen, aber es genügt
diese panische Angst, damit... Das ist widersinnig, unwiderstehlich, absurd. Das Verlangen,
„mit reinem Gewissen" zu sterben Kaum acht Tage später sind Angst und Glaube wieder
verflogen, nicht zuletzt, weil Anna in jenen Tagen nach langen Monaten der Geduld zum ersten
Mal bereit gewesen war, sich ihm hinzugeben. Die Liebe hatte gesiegt. Cabanis erinnert sich
im April 1975: Ich hatte kurz zuvor durch Geduld von Anna das erhalten, von dem sie mir bis
dahin nur das Drumherum, ausgeschmückt mit verschiedenen Ersatzhandlungen, gewährt
hatte. Gott bewahre, daß ich diese Hingabe, zu der sie nur durch die Liebe bereit gewesen war,
leicht genommen oder darüber gelacht hätte. Außer in einigen Fällen, die jedermann verachtete
, ging man in jenen Tagen nicht so leicht mit jemandem ins Bett. Aber für mich war es
der Erfolg und der Triumph, die Mut machen, und ich brauchte in der Tat Gott nicht mehr. Ich
warf alles über Bord.]"

Auch die Liebe zu den Eltern? Als Jose vor den Flugzeugen Schutz suchend Gebete stammelt,
überkommt ihn auch der Gedanke an seine Lebenswünsche: vor dem Sterben möglichst zwei
oder drei Bücher zu schreiben und seine Mutter noch einmal zu sehen: Und vor allem Sie,

,H Cabanis, Les profondes annees, S. 220.
19 Ebd., S. 221.
11 Ebd., S. 220.

1 Ebd., S. 223.

2 Ebd., S. 221.

3 Ebd., S. 228.

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