Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 51
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Ruhe vor dem Sturm

Die Alliierten waren im Elsaß. Sie hatten den Westen Deutschlands so sehr bombardiert, daß
Stromausfälle herrschten, daß es in der Fabrik an Material mangelte und man nur noch
unregelmäßig arbeitete. Für uns war das etwas, was ich seit so vielen Monaten nicht mehr erlebt
hatte, fast Ferien, Freizeit, Zeit zum Träumen, jedenfalls eine Atempause und eine Wartezeit, von
der man nicht wußte, ob die Freiheit sie beenden würde oder der Tod. Ich hatte also viel Zeit,
um zu lesen und Anna zu sehen. Ich erinnere mich sehr gut an jenen schönen Novembernachmittag
auf den Hügeln - es dürfte ein sogenannter Altweibersommer, der allerdings nur einen
Tag dauerte, gewesen sein - und an jenes bis in den Abend dauernde Gefühl, daß, weil der Krieg
so nahe war, das Ende gekommen sei: Bald würde ich entweder in Frankreich oder tot sein, und
wir würden nie wieder an diesen Ort zurückkommen. Und ich hatte recht. Lediglich der Winter
war länger, als ich es erwartet hatte, und wir haben wieder begonnen, mehr und länger in der
Fabrik zu arbeiten. Aber davor lagen einige Wochen, in denen die Liebe, die ich mit diesem Kind
teilte, mir den Verstand geraubt hatte. Die Liebe und der Tod - das ewige Paar. Indessen stimmt
es, daß ich den Tod für wahrscheinlich hielt, er mich aber nicht mehr ängstigte. So fest hielt ich
die Liebe in meine Arme geschlossen. Ich wollte Anna nach Frankreich mitnehmen, falls wir das
Feuer durchschreiten sollten. Ich war verrückt, verrückt vor Glück.'2'

Das Kriegsende näherte sich, wie Jose richtig gespürt hatte, und mit ihm wuchsen die Unsicherheit
und Gefahr, die militärische Handlungen begleiten. Jose schrieb seinen ersten
Dezembereintrag in dem Bewusstsein, dass angesichts wachsender Zerstörung der Fortbestand
und Erhalt seines Tagebuches, ja seiner eigenen Existenz fraglich wären. Noch nie
hatte er so stark, so häufig, so nah, am Rhein und im Elsaß, das Grollen der Kanonen und
den Einschlag der Geschosse gehört. Zahlreiche Geschwader waren über ihn hinweggeflogen
. In der Fabrik hielten sie abwechselnd zu zweit Nachtwache, um im Falle eines Bombardements
mit aufgeschüttetem Sand Feuer zu löschen, falls sie nicht selbst schon unter den
Trümmern lägen. Man arbeitete nur noch zeitweise: Das Förderband lief langsamer, mit häufigen
Unterbrechungen mangels Nachschub oder weil eine Maschine ausfiel und man sie mit
den zur Verfügung stehenden Mitteln nur mit viel Mühe wieder zusammenbasteln konnte.
Öfter und länger denn je schloss sich Jose in der einige Monate zuvor neu eingerichteten und,
wie er betont, blitzsauberen Toilette ein (in dieser weißen Zelle, deren Tür ich hinter mir verschließen
konnte)'22, um Chateaubriand (40) nicht zu lesen, sondern zu verschlingen, und
bemerkte dazu: Wahrlich, um „Les Natches" in sich hineinzustopfen, muß man in Deutschland
im Krieg sein, am Rande der Niederlage, in einer Waffenfabrik arbeitend, die jeden Augenblick
hochgehen kann.12- Wenn er dann wieder an das noch stehende Band zurückkam, mitten unter
all diese quasselnden deutschen und russischen Frauen, dann hatte er Zeit und Muße, über das
Gelesene nachzudenken und es in sich aufzunehmen. Was ich auf diese Weise über die
Beziehungen zwischen Staat und Kirche festgestellt habe, denke ich heute noch,124 kommentiert
er 1975.

Die Rheindörfer waren größtenteils evakuiert; auch aus Kenzingen flohen die Menschen. Auf
dem Nachhauseweg sah er in seiner Straße einen großen Pferdewagen, beladen mit Schachteln,
Kleidern, Matratzen, fertig zur Abfahrt. Er wusste, dass der Krieg ihn jetzt jeden Tag erreichen
konnte und dass es zahlreiche Möglichkeiten gab, ihn nicht zu überleben'25, wie er notierte.

121 Cabanis, Les profondes annees, S. 233 ff.

122 Ebd., S. 238.

123 Ebd., S. 238 f.

124 Ebd.

125 Ebd., S. 234.

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