Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 90
(PDF, 30 MB)
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Bewohner gehören für Cabanis zu jenem unmittelbaren Gewinn, den er aus seiner Zeit als
Fremdarbeiter zog. In seinen Aufzeichnungen - und nach dem Krieg auch im Gespräch mit
seiner Familie - hob er wiederholt und mit einem gewissen Stolz seine Zugehörigkeit zur
Arbeiterklasse als ein Schlüsselerlebnis seines Lebens am Fließband hervor. Dieser Erfahrung
des Arbeiterlebens verdanke ich eine erbitterte Abscheu gegenüber Geld, Besitz, Ehrwürdigkeit
, Ausbeutern, Bourgeoisie.242

Während diese Sympathie für den Sozialismus trotz allen hartnäckigen Beharrens von Cabanis
nicht völlig überzeugt (vgl. S. 84), ist eine andere Entdeckung, die er in Kenzingen machte,
über jeden Zweifel erhaben. Hier, ausgelöst und begünstigt durch die völlig neue Erfahrung des
Getrenntseins von seinen Eltern, wird ihm zu ersten Mal bewußt, wie sehr er sie braucht, wie
sehr er mit ihnen verbunden ist, wie sehr er sie liebt. Meine Liebe zu allen beiden, das ist es,
was mein Deutschlandaufenthalt mich verstehen ließ, was ich ihm verdanke.24* Durch die
erzwungene Trennung bringt der Krieg die Menschen näher zusammen. Er öffnet Jose Augen
und Herz für ein unschätzbares Gut, das er bis dahin als selbstverständliche Gegebenheit
verkannt und nicht gesehen hatte.

Freund und Feind

Die Schilderung der zwischenmenschlichen Beziehungen trägt dazu bei, dass aus Cabanis'
Tagebüchern und Briefen Literatur wird. Sie verwandelt die rein inhaltlich-chronologische
Sammlung von historischen Vorkommnissen und persönlichen Gedanken in eine Aussage von
allgemeiner Gültigkeit und Wahrheit. Jose Cabanis schrieb auf, was ihm die Geschichte diktierte
, was ihm seit seiner Abreise aus Toulouse widerfuhr. Seine ebenfalls festgehaltenen
Gedanken dazu und die späteren Kommentare analysieren seine Reaktionen und die seiner
Umwelt. Welche Ereignisse er im Tagebuch festhielt, wie er sie beschrieb und was er dazu
dachte, das verwandelte seinen historischen Bericht in eine Studie über das Verhalten des Menschen
.

Das überraschendste Ergebnis ist, dass Jose als Feind im Feindesland Menschen trifft und
keine Feinde: Er begegnet Menschen, die ihn achten, die ihm wertvoll werden durch ihre natürliche
Zuneigung, ihre Bescheidenheit und weil sie keinerlei Dünkel zeigen. Ich liebte die
kleinen Leute in Deutschland, nicht die vornehmen Herrschaften, die Süddeutschen und nicht
die, welche man in meiner Umgebung „die Preußen" nannte. Und was für ein Gesicht man
dabei machte war sehenswert.241 Die natürliche, spontane Freundlichkeit der Menschen, die
Offenheit für andere ohne Rücksicht auf Stand und Nation, das Zusammenstehen in der Gefahr,
haben Cabanis tief beeindruckt. Als Fremdarbeiter erfuhr er die Erniedrigung zum absoluten
Nichts an menschlicher Würde, aber er erlebte ebenso die wundersame Auferstehung zum
geachteten, geliebten Mitmenschen dank der Anerkennung und freundlichen Aufnahme durch
Kenzinger Bürger.

Es fällt auf, dass Cabanis in allen Aufzeichnungen über seine Zeit in Köndringen, Teningen
und Kenzingen nie einen Menschen beschrieben hat, der ihm ausgesprochen feindselig begegnet
wäre, einen Bösen, der ihm schaden wollte. Natürlich war da die Todesangst vor dem
Bombenwerfer oder dem Maschinengewehrschützen, es starben Menschen, man fürchtete sich.

:4; Cabanis, Lettres, S. 62.

243 Ebd.

244 Ebd., S. 90.

90


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