Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
39. Jahrgang.2019
Seite: 91
(PDF, 34 MB)
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Piedade: ...es war vielleicht auch einfach zu schwierig. Man ist nicht bereit, nicht
bereit im Kopf, um mehr wissen zu wollen.

Ich sehe heute, dass es vielen Menschen ähnlich geht. Leute, die deportiert wurden
oder die ihre Familie im Krieg verloren haben, wollten nicht darüber sprechen und
wollten nichts davon hören. Sie wollten vergessen, was passiert ist und wollten einfach
nur leben. Das ist alles.

Als ich mich entschied, das Buch zu schreiben, war es, weil meine Cousine Piedade
mich darum gebeten hat - und weil ich Angst hatte, dass ich Dinge vergessen würde,
wenn ich älter werde.

Piedade: Sie musste die Geschichte für uns und unsere Kinder erzählen. Meine Familie
ist nach Brasilien gegangen, um ein neues Leben zu beginnen. Mein Vater [Leo Epstein
] war jung, gerade einmal 21 Jahre alt. Meine Großmutter lebte mit uns, aber sie
erzählte uns nichts. Sie sprach deutsch, aber mein Vater beschloss, dass wir Kinder
kein Deutsch lernen sollten. Meine Mutter ist Brasilianerin, und sie wollte Deutsch
lernen, aber es war zu schwierig. Und so wurde das, was meine Oma sprach, nicht
verstanden. - Als mein Vater uns von Kenzingen erzählte, schauten wir auf der Landkarte
nach, aber da gab es kein Kenzingen. Es gab noch kein Internet oder Google
Maps, und auf der Landkarte gab es kein Kenzingen, also existierte es für uns auch
nicht. Und jetzt sitzen wir hier...

Sie haben den Weg nach Kenzingen gefunden. Hier ist Ihr Vater geboren. Hier
lebten viele ihrer Verwandten. Was bedeutet Kenzingen heute für Sie?

Manchmal denke ich, wenn der Krieg nicht gewesen wäre, dann würde ich heute hier
leben. Aber das ist nicht das, was passiert ist. Als ich das erste Mal nach Deutschland
kam, dachte ich nur an den Krieg, die Nazis... Nun habe ich diese Gefühle nicht mehr.
Ich bin heute gerne hier. Es war mein erster Chef, Herr Le Troquer, der mir sagte, dass
ich nach Deutschland gehen müsse, um zu verstehen. Verstehen müsse, was zu jener
Zeit mit der Wirtschaft passierte. Dass ich den Unterschied zwischen individueller
und Kollektivschuld verstehen müsse. Ich war im Grunde noch ein Kind und wus-
ste nichts. Er war wie ein Vater zu mir und half mir, viele Dinge zu verstehen, über
Deutschland und Frankreich und den Krieg.

Als Kind war ich in einer jüdischen Schule und lernte die Geschichte der Juden vom Mittelalter
bis zum Holocaust. Du bist neun Jahre alt und lernst die ganze schwere Geschichte,
die mit dem Holocaust endet. Wir waren zweimal im Konzentrationslager Natzweiler-
Struthof in der Nähe von Strasbourg, das war hart! Ich las viele, viele Bücher über die
Konzentrationslager. Aber eines Tages reichte es, und es war gut, das erste Mal nach
Deutschland zu kommen.

In Kenzingen war ich das allererste Mal 1994 inkognito mit Piedade und ihrem Mann.
Wir nahmen den Zug von Strasbourg nach Offenburg und dann nach Kenzingen. Ich
hatte damals keine Ahnung, dass Kenzingen so nah bei Strasbourg liegt!

Piedade: Mein Vater lebte damals noch und sagte: Fahr mit Irene nach Kenzingen.
Das ist wichtig, sie muss dahin gehen.

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