Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
39. Jahrgang.2019
Seite: 95
(PDF, 34 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-2019-39/0097
Unsere Erinnerungskultur hat in der europäischen Flüchtlingskrise der letzten
Jahre eine große Bewährungsprobe bestanden. Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung
hieß die Kriegsflüchtlinge willkommen, nahm sie auf und betreute
sie. Ist es falsch, das Verhalten dieser Menschen auch so zu erklären, dass sie
aus der Geschichte von Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung während des
Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit gelernt haben? „ Willkommenskultur
" bedeutet: Schutzbedürftige weist man nicht ab, sondern man hilft ihnen. In
Deutschland haben Staat und Zivilgesellschaft sich dieser Aufgabe gemeinsam
angenommen. Diese humane Leistung wird auch nicht dadurch geschmälert, dass
die staatliche und gesellschaftliche Hilfsbereitschaft im Gegenzug eine fremden-
feindliche, rechts-nationalistische Bewegung im eigenen Land und eine Abschottungspolitik
in anderen europäischen Ländern hervorgebracht hat.

In einigen Regionen der neuen Bundesländer erleben wir extreme Formen von
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Der aus Ostdeutschland stammende Historiker
Ilko-Sascha Kowalczuk, ein Experte für die Geschichte der DDR, erklärt uns:
„ Fast die Hälfte der Ostdeutschen kann sich aktuell vorstellen, die rassistische
AfD zu wählen; undfast die Hälfte fühlt sich als Deutsche zweiter Klasse. " Heute
gebe es in Ostdeutschland eine „gesichtslose Menge'', die Menschen im Mittelmeer
,absaufen' lassen möchte, die zu Gewalt gegenüber ,anderen4 bereit ist und
keinerlei Berührungsängste mit extremistischem Gedankengut hat. Zivilgesellschaftliche
Prozesse und Geschichtskontroversen, die im Westen vor 1990/1995
stattgefunden haben, gab es in der ehemaligen DDR nicht.

Die geschichtspolitischen Ansichten der AfD stellen einen Totalangriff auf unsere
Erinnerungskultur und eine Aufkündigung des bisherigen Grundkonsenses
der demokratischen Kräfte unseres Landes dar. Die Reden ihrer führenden Leute
rufen Empörung und Entsetzen hervor. Vielerorts wird verkannt, dass es sich nicht
um spontane Ausrutscher handelt, sondern um Teile einer durchdachten Strategie
. Höcke, Gauland und andere AfD-Politiker wollen - wie andere Relativierer,
Leugner und Beschöniger vor ihnen - endlich den lange ersehnten Schlussstrich
unter die deutschen Verbrechen ziehen. Man muss wissen: Der AfD geht es nicht
um die Leugnung der NS-Verbrechen, sondern um deren Stellenwert in unserer
Erinnerungskultur, den sie „Schuldkult" nennen.

Mit der Rede vom „ Schandmal" in Berlin (Höcke) und vom „ Vogelschiss " (Gauland
) haben wir es mit einer bis dahin beispiellosen Relativierung des Holocaust
und anderer Massenverbrechen des NS-Staates zu tun - und zugleich mit einer
Verhöhnung von Millionen von Opfern des Nationalsozialismus. Die AfD tritt als
Partei nicht offen antisemitisch auf, aber sie duldet Antisemiten in ihren Reihen
und sie bedient und fördert einen unterschwelligen Antisemitismus. Gauland betrachtet
den Blut-und-Eisen-Kanzler Bismarck als politisches Vorbild und fordert
das Recht ein, „ stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen
". Ein Profil der Friedfertigkeit ist nicht zu erkennen.

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