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Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani stellte nach seinem ersten Be-
such in Auschwitz die Überlegung an: „Je ferner Auschwitz rückt, desto leichter
wird es Deutschen wieder fallen, sich an ihrer Geschichte zu erbauen. Und sie
werden übersehen, dass gerade in der Gebrochenheit Deutschlands bundesdeutsche
Identität und, ja, Stärke und Vitalität liegt. Es gibt nichts Ganzeres als ein
gebrochenes Herz ", lehrte der Rabbi Menachim Medel (Morgenstern) von Kotzk.
Damit wollte Kermani sagen: Wir haben Goethe und Heinrich Heine, aber auch
Hitler und Heinrich Himmler. Weder die Einen noch die Anderen dürfen wir verleugnen
. Den Rechtspopulisten in unserem Land fehlt der Wille und die Kraft, mit
dieser Ambivalenz zu leben. Sie wollen die deutsche Geschichte entkriminalisieren
, sich die Rosinenstücke herauspicken und eine völkisch-heroische Identität
schmieden. Leider gibt es dafür einen beträchtlichen Resonanzboden.
Eine demokratische Erinnerungskultur geht anders. Sie leugnet und unterschlägt
nichts, akzeptiert die Ambivalenz und trägt mit dem Mut zur Wahrheit dazu bei,
dass es besser wird und dass es keinen Rückfall gibt.
Seit längerem wird die Frage erörtert: Kann eine Erinnerungskultur, die sich an
Anti-Positionen orientiert - „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!" -, in
Zukunft noch eine hinreichende Basis für das Lernen aus der Geschichte darstellen
? Oder muss sie durch positive Identifikationsangebote ergänzt werden?
Im „Angebot" ist seit der Stockholmer Holocaust-Konferenz von 2000 die Idee,
die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen Holocaust zur Grundlage für eine
permanente und weltweite Erziehung zur Einhaltung der Menschenrechte zu machen
. Weiterhin ist die Idee einer Erziehung zu den Menschenpflichten zu nennen
. Einige Vordenker, die sich um den Bestand der Erinnerungskultur Sorgen
gemacht haben (unter ihnen die Politiker Helmut Schmidt, Franz Vranitzky und
Shimon Peres) haben 1997 einen entsprechenden - viel zu wenig beachteten -
Vorschlag unterbreitet. Der Grundgedanke lautet, sich eine Norm zueigen zu machen
, die in allen Kulturen und Religionen der Welt seit Jahrtausenden Gültigkeit
hat: „ Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. " Oder,
positiv gewendet: „Jede Person hat die Pflicht, [...] alle Menschen menschlich
zu behandeln ". Konkreter gesagt: „ Niemand hat das Recht, eine andere menschliche
Person zu verletzen, zu foltern oder zu töten. " Aleida Assmann hat diese
Idee in ihrem neuen, philosophisch inspirierten Buch „ Menschenrechte und Menschenpflichten
" weiterentwickelt.
Neben einer solchen, auf universale Werte abhebenden Erziehung ist die Idee im
Gespräch, die Menschen zu einer tiefer gehenden Beschäftigung und Identifikation
mit deutscher Demokratiegeschichte einzuladen. Die Notwendigkeit einer solchen
Erinnerung erkannte der damalige Bundespräsident Gustav W. Heinemann
bereits Anfang der 1970er Jahre. Ihm ist es zu verdanken, dass in Rastatt eine
„Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte'6
geschaffen wurde. Leider ist sie bislang zu wenig in Erscheinung getreten und
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