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523 P*}ch. Studien. XXXVI. Jabrg. 9. Heft (September 1909.)
Ich habe Freundinnen, welche ihre Jugend auf der
Insel Malta verbrachten und für deren Wahrhaftigkeit und
vortreffllichen Charakter ich mich verbürgen kann. Diese
erzählten mir nun, daß sie eine Dienerin hatten (ob Französin
oder Schweizerin, ist mir nicht mehr erinnerlich),
welche zu ihrer Kurzweil aus einer Teetasse zu wahrsagen
pflegte. Sie vermochte ©rtlichkeiten und Personen zu beschreiben
, die sie darin in einer Ausführlichkeit erblickte,
um angeben zu können, wo sie verweilen oder wem sie begegnen
würden, so daß, wenn in der Folge diese Ereignisse
stattfanden, jene imstande waren, die Personen und Orte
zu erkennen, mit denen sie aus der Schilderung bekannt
geworden waren.
Ich verfüge zwar über keine persönliche Erfahrung in
visueller [das Sehvermögen betreffender] Clairvoyance, doch
vermag ich eine Bekanntschaft mit der mentalen [rein
geistigen] Clairvoyance nachzuweisen. Vor sieben oder
acht Jahren lernte ich eine gewisse Mrs. B. kennen, die ich
mit beträchtlicher hellsehender Fähigkeit begabt fand. Die
Sitzungen wurden in einem schwach erhellten Zimmer abgehalten
, wo sie an einem, ich an dem anderen Ende des
Tisches saß. Auf ihr Ersuchen zog ich die Handschuhe
aus, die ich trug, und überreichte sie ihr. Nachdem sie
dieselben ausgeglättet und sie einige Sekunden lang ausgeschlagen
hatte, um, wie sie mir sagte, den „Einfluß meines
Magnetismus* zu erlangen, der nach ihrer Behauptung im
Handschuh enthalten M ar, wodurch sie sich in psychischen
Rapport mit mir setzte, geriet sie, wie man mir zu verstehen
gab, in eine Art Trancezustand, welcher jedoch keine
merkbare Veränderung bei ihr hervorbrachte. Wenige Minuten
später begann sie meinen Charakter und viele Umstände
meines vergangenen Lebens mit einer solchen Genauigkeit
zu schildern, daß man hätte glauben können, sie
wäre eine nahe Bekannte von mir gewesen, obschon ich
ihr nie zuvor begegnet war. Jch übergab ihr sodann, eingehüllt
in die dazu gehörigen Kuverts, Briefe, welche ich
von einigen Freunden und Familienmitgliedern erhalten
hatte. . Sie nahm jeden dieser Briefe einzeln auf und
drückte ihn an die Stirne, worauf sie mit einem Male fähig
ward, den Charakter jedes einzelnen Schreibers aufs genaueste
zu beschreiben. Einer dieser Briefe stammte von
einer nahen, mir sehr teuren Verwandten her, welche schon
während meiner früheren Kindheit gestorben war. Nach
einigem Zögern bemerkte die Seherin: „Es scheint mir, als
rühre dieser Brief von jemand her, der bereits hinübergegangen
ist," indem sie damit sagen wollte, daß der Brief-
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