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Literaturbericht
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Tibullübersetzer Graf v. Reinhard, der Maler, Schauspieler und
Theaterdichter Karl Franz Hiemer, dem wir das bekannte Bildnis
des 22-jährigen Hölderlin verdanken, endlich als jüngster Sproß
des gewaltigen, uralten Geisterbaums der „Rosendoktor'* Ludwig
F i n c k h. Bis zu den Goethetextors, bis zu Martin Luther spinnt
sich das erstaunliche, in seiner Verzweigtheit fast verwirrende
Verwandtschaftsgewebe. H. W. Rath, der sich als Mörike-
forscher bedeutende Verdienste erworben hat, bereitet das Erscheinen
einer mit allen Beweisen an genealogischen Tafeln,
Urkunden und Stammbäumen versehenen Publikation seiner bedeutsamen
Forschungsergebnisse vor. (Voss. Ztg.)
Literaturbericht.
Bücherbesprechungen.
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer
Morphologie der Weltgeschichte. I. Bd.: Gestalt und Wirklichkeit.
7.—10. unveränderte Auflage. 615 S. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung
, München 1920. Preis M. 31.20. —
Dieses hervorragende Werk des Münchener Philosophen, das eine
Fülle neuer für den Kulturhistoriker wie für den Erkenntnistheoretiker
gleich wichtiger Fragen anlegt, kann ähnlich wie die im gleichen Verlag
erschienene „Geschichte ak Sinngebung des Sinnlosen4* von Theodor
Lessing (1919, geh. 6 M., geb. M. 9) als Ergebnis des Weltkriegs bezeichnet
werden: es ist ein ruhmreiches Denkmal deutschen Geistes
und deutschen Gelehrtenfleißes, durch das die moderne Geschichtswissenschaft
ein ganz neues Gesicht gewonnen hat; der Geschichtsforscher
wird dadurch zum „Physiognomiker aller Kulturen". Die Periodizitäts-
tmd Stufengesetze, die Gleichheiten und Lebensalter der Kulturen, die
Spengler gewissermaßen visionär erschaut, sind für Lessing erkenntniskritische
Probleme, mit welchen er auch neue Waf?en für Theologen
und Mystiker geschmiedet hat. Es ist im enggezogenen Rahmen dieser
Besprechung unmöglich, dem Leser von der Überfülle des Stoffes eine
Vorstellung, geschweige ein deutliches Bild zu geben; das ist ein Werk,
das jeder selbst studieren muß. Von dem Grundgedanken ausgehend
, daß die Kultur des Abendlandes in Untergangsglut leuchtet, erblickt
Verf., der in seinem ebendort erschienenen Buch: „Preußentum
und Sozialismus44 (M. 4) den Weg zeigt, den der deutsche Sozialismus
gehen muß, wenn wir unsere Zukunft nicht verfehlen wollen, in der
jetzigen politischen und kulturellen Entwicklung eine welthistorische
Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte, in deren Anfang wir gegenwärtig
stehen. Es handelt sich dabei nicht um eine neben anderen mögliche
und nur logisch g* rechtfeitigte, sondern um die gewh-sermaßen
natürliche, von allen dunkel vorgefühlte Philosophie der Zeit; Kunst und
Wissenschaft, wie sie das Abendland, vor allem das schönheitstrunkene
Hellas und das machtvolle Rom gezeitigt haben, liegen schon beinahe
hinter uns und ein Zeitalter der praktischen Kraft und des Gemeinnutzens
ist angebrochen. Das 1. Kapitel handelt vom Sinn der Zahlen,
das 2. vom Problem der Weltgeschichte (Physiognomik und Systematik,
Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip), das 3. vom Makrokosmos, das
4. von Musik und Plastik, das 5. von Seelenbild und Lebensgefühl
(Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus), das 6. von „faustischer und
apollinischer Naturerkenntnis. Der demnächst erscheinende II. Bd. soll
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