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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1963/0059
im Gedicht von der Hochzeit14, also in Dichtungen, deren Entstehung um oder
bald nach 1150 anzusetzen ist15. Die Kenntnis des Luzifer-Mythos in der altdeutschen
geistlichen Dichtung ist also hinreichend aufgezeigt.

Es ist nun sicher nicht zufällig, daß in jedem der frühen Berichte auch die
Rede von Luzifers Stuhl ist (ags. Genesis 273,281,301,366; Wiener Genesis 51;
mfrk. Reimbibel C 29 und 37); selbst so kurze Erwähnungen dieses Zusammenhanges
wie die Notkers (NPs 88. 13) und der Kaiserchronik (8822) gedenken
dieses Stuhles. Was vorhin schon angesichts des Freiburger Nordportales anzunehmen
war, wird dadurch bestätigt: der Stuhl Luzifers gehört wesentlich zu
der Geschichte seines Sturzes dazu. Allerdings verfehlt man die Aussage dieses
Bildelementes, wenn man im Stuhl dieser Art entweder einen Thron oder einen
einfachen Sitz sieht; beides ist im Entscheidenden zu wenig. Die Freiburger
Darstellung zeigt eindeutig, daß der Stuhl, den Luzifer gegen Gott-Vater
erhebt, alles andere als ein Thronsessel ist; auf einem solchen sitzt allenfalls
Gott selbst. Und wenn es sich nur um einen beliebigen Sitz handelte, wäre nicht
einzusehen, warum der Teufel gerade ihn zur Waffe gegen Gott erwählt.

Die Geschichte des deutschen Wortes Stuhl vermag zu zeigen, daß man in
jenen Jahrhunderten mit diesem Worte etwas anderes bezeichnete als in
späterer Zeit: ein Stuhl ist ein rechtsbedeutsamer Sitz, der jeweils nur einem
bestimmten Besitzer zustand, weil damit festumrissene Rechte verbunden
waren. So stand der Richterstuhl nur dem dazu legitimierten Inhaber zu, der
dann kraft seines Dort-Sitzens Recht sprach. Und mit der Stuhlsetzung auf
dem Aachner Stuhl wurde die Einsetzung zum deutschen König rechtskräftig16.
In der gestalthaften Rechtsversammlung altdeutscher Zeit, die sich aus dem
Vor-Sitzer und den Bei-Sitzern zu einem Ring zusammensetzte, nannte man
zunächst nur den Platz, dem die Vollmachten des Vorsitzes anhafteten, Stuhl;
späterhin hieß auch der Sitz eines jeden vollberechtigten Ringmitgliedes so.
Deshalb konnte man vom Gestühl der Chorherren eines Stiftes reden, weil es
die einzelnen Stühle zu einer Gesamtheit zusammenfaßte. Der Chor dieser
Stuhl-Inhaber war ein Kollektivum von Männern, die durch ihre Stühle bestimmte
Rechte oder genauer: Vorrechte, Privilegien besaßen.

Auch Luzifer gehörte vor seinem Sturz einem Chore an und hatte als dessen
Mitglied einen Stuhl inne. Es war das nicht irgendeiner unter vielen: Luzifer
war der erste Engel des obersten Chores, also der Gott am nächsten stehende
Engel17. Dieser ranghöchste Engel nun wurde von der Ursünde der superbia, des
ubermuotes, ergriffen und wollte sich Gott gleich machen; das ist der Grund für
seine Verstoßung. Mit den Worten der mittelfränkischen Reimbibel lautet das:

i-t Kleinere Deutsche Gedichte . . ., ed. Waag, S. 87—123; vgl. dazu de Boor/Newald a. a. O. I, 187 f.

15 Da das Freiburger Nordportal dem 14. Jahrhundert entstammt, wäre es an sich wünschenswert, zum Vergleich
Dichtungen aus dieser Zeit heranzuziehen. Das stößt nur auf eine Schwierigkeit, die aus der seit
etwa 1200 veränderten Geisteshaltung hervorgeht: „Wie zu erwarten, tritt die religiöse Dichtung im
engeren Sinne, das Wort der Kirche an den Laien, in dieser Zeit stark zurück. Beliebte und führende
Gattungen des 12. Jahrhunderts wie Reimpredigt, Sündenklage, Heilsdogmatik, verschwinden aus der
deutschen Literatur . . . Eine eigentliche Bibeldichtung, vollends eine solche mit dogmatisch-heilsgeschichtlicher
Interpretation, fehlt ganz" (de Boor/Newald a. a. O. II, 377). — Trotz dieser Quellenlage,
die uns unmittelbar zeitgenössische Belege versagt, ist die Kenntnis dieser theologischen Spekulationen,
die hier aus der Literatur des 10. bis 12. Jahrhunderts aufgewiesen werden, als im 14. Jahrhundert weit
verbreitet anzunehmen.

io Dazu Helmut Naumann, Stuhl oder Krone, Antaios 2, 1960, 171—179.

1" Bekanntlich gliederte die mittelalterliche Theologie seit Dionysius Pseudoareopagita das Himmelreich in
neun Chöre, deren erster — vor den Cherubim und Seraphim! — bei Dionysius thronoi heifit (Friedrich
Loofs/Kurt Aland, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 5. Auflage, Halle 1951, I. 254). Gelegentlich
erscheint später die Zahl von zehn Chören, so in der ags. Genesis V. 248 oder in der Wiener
Genesis V. 13. Acht dieser zehn Chöre nennt der letztgenannte Text (V. 17—24) mit deutschen, dem Dionysius
nach-übersetzten Namen; davon ist einer (V. 19) gestüle.

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