Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 465,da
Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
120.2001
Seite: 268
(PDF, 59 MB)
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auferlegte Schamröte jener Jahre im Gesicht. Mit Hilfe welcher Bilder und Bücher
hätte man nun den aufrechten Gang erlernen können?

Nun, da gab es neben dem Gallienbezwinger Caesar und neben der den Odysseus
singenden Muse noch die Borromäusbibliothek in St. Johann mit Erbaulichem für
den bündischen Erlebnishunger und mit den Fortschrittsversprechungen von Span-
nungs- und Technik-Schmökern mit dem Titel Das Neue Universum. Und es gab
nach den Prügeleien und Hinlegen-Aufstehen-Exerzierereien der Hitlerjugend charismatische
Jugendkapläne und Lieder mit Texten voller Sehnsucht nach fernen Horizonten
: „Wir sind durch Deutschland gefahren, vom Meer bis zum Alpenschnee/
Wir haben noch Wind in den Haaren, den Wind von Bergen und See/ In den Ohren
das Brausen der Ströme, der Wälder raunender Sang./ Das Geläut von den Glocken
der Dome, der Felder Lerchengesang." Es gab also auch prägende Texte außerhalb
des Wirkungskreises von Paukern. Und es gab Kulturerfahrungen, die nach dem
Wegfall der Besatzungsgrenzen ohne ein Laissez Passer möglich wurden.

Jugend bewegte sich. Ging, wie man das nannte, auf Fernfahrt. Es gab wieder
Fahrräder. Wir lackierten die Felgen gelb und fuhren im Sommer 1949 von Freiburg
zur Nordsee.

Eine Fahrt vorbei an Zertrümmertem zum Unzerstörbaren. Dome, Kirchen, Klöster
, das steht noch und ragt, und die Augen suchen das einmalig blaue Altenburger
Blau. Nächte in Bahnhofsmissionen, Pfarrhäusern, in Sterbezimmern von Kliniken
und am Lagerfeuer hinter den Dünen.

Im selben August 1949 bereiste die Philosophin Hannah Arendt das Land, vor dessen
mörderischer Bedrohlichkeit sie 1933 über Frankreich 1941 in die USA geflohen
war. Sie notiert:

„Der Anblick, den die zerstörten Städte in Deutschland bieten, und die Tatsache,
daß man über die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Bescheid weiß,
haben bewirkt, daß über Europa ein Schatten tiefer Trauer liegt. Beides zusammen
hat dazu geführt, daß man sich an den vergangenen Krieg schmerzlicher und anhaltender
erinnert und die Angst vor künftigen Kriegen an Gestalt gewinnt ... Der Alptraum
eines physisch, moralisch und politisch ruinierten Deutschlands ist ein fast
ebenso entscheidender Bestandteil des allgemeinen Lebens geworden wie die kommunistischen
Bewegungen.

Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt
und nirgendwo wird weniger davon gesprochen als in Deutschland. Überall
fällt einem auf, daß es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer
zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern
oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Inmitten der Ruinen
schreiben die Deutschen einander von Marktplätzen und Kirchen, den öffentlichen
Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit,
mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre Entsprechung darin, daß
niemand um die Toten trauert. Sie spiegelt sich in der Apathie wieder, mit der sie
auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder viel mehr nicht reagieren
. Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche
Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur
das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und

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