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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
126.2007
Seite: 220
(PDF, 57 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2007/0220
Im Nachlass Lonja Stehelin-Holzings, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt,
findet sich in einem Band mit tagebuchartigen Aufzeichnungen, Notizen, Zitaten aus den Jahren
1918 bis 1945 ein Blatt, das unter der Rubrik Das Dorf eine Anzahl von Stichworten zu
Personen und Vorgängen in Bollschweil aufweist, offenbar Notate zu einem Textvorhaben, wie
es von der Schwester Marie Luise Kaschnitz in der „Beschreibung eines Dorfes" später realisiert
worden ist. Hätte Lonja Stehelin ihr Vorhaben ausgeführt und veröffentlicht, dann wäre
das Kinderheim „Sonnenhalde" vor dem Vergessen, das ihm dann zuteil wurde, bewahrt geblieben
. Denn gleich eingangs notierte sie in ihrer Themenliste die Stichworte: Pf. Fränznick/
Das jüdische Kinderheim/ Kirners14 - sie hatte also nicht nur beabsichtigt, das Schicksal des
denunzierten, nach Dachau verschleppten und dort an den Lagerbedingungen verstorbenen
Bollschweiler Pfarrers Franz Anton Fränznick anzusprechen, dessen auch im Kaschnitz-Text
gedacht wird.75 Ebenso wollte sie die von amtlichen Schikanen und zuletzt von ständiger Angst
vor der Deportation geprägte Lebenssituation der Jüdin Emma Kirner, deren Geschwister alle
in Konzentrationslagern starben,76 und zugleich die Geschichte der im Dorf zwar nicht offen
angegriffenen, aber doch verdeckt verfolgten jüdischen Kinder in Erinnerung rufen, die bei Marie
Luise Kaschnitz nicht erscheinen, auch dort nicht, wo sie den Weg rechts am Leimbachtal
hinauf nimmt: den Weg zur kleinen immer leeren, immer mit Blumen geschmückten Kapelle,
vorbei an dem Anwesen des untergegangenen Kinderheims „Sonnenhalde".77

™ Wie Anm. 35, S. 243.

75 Zu Pfarrer Franz Fränznick vgl. den Beitrag von Christoph Schmider, in: Zeugen für Christus. Das deutsche
Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hg. von Helmut Moll. Bd. 1. Paderborn u.a. 22001, S. 195-198. - Vgl.
Marie Luise Kaschnitz: Beschreibung eines Dorfes. Frankfurt/M. 1980, S. 57 und 94.

76 Am 10.10.1938 benannte das Bürgermeisteramt dem Bezirksamt Freiburg als einzigen jüdischen Gewerbebetrieb
in der Gemeinde Bollschweil: Firma Emma Kirner, Bürstenfabrikation. - Am 16.2.1939 teilte Emma Kirner
dem Bürgermeisteramt wie vorgeschrieben mit, dass sie den zusätzlichen Vornamen Sara angenommen habe;
Bestätigung durch das Standesamt ihrer Heimatgemeinde Emmerich. GemeindeAB, B XI.2 Nr. 17. Ab 1941
musste sie den gelben Stern tragen. - Der Status der privilegierten Mischehe' bewahrte Emma Kirner vor der
Deportation nach Gurs im Oktober 1940. Dass sie in der Zeit danach der weiteren Aufmerksamkeit der Gestapo
nicht entgangen ist, belegt ein „Verzeichnis der am 1.2.1941 in Baden noch wohnhaften Juden", in dem sie für
den Stadtkreis Freiburg unter der Nr. 109 aufgeführt wird. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 99/001 Bü. 268. Da
ihr Mann blind war, mag man sie von den Deportationen der Folgejahre, die auch die privilegierten' Juden selbst
noch im Februar 1945 erfasste, ausgenommen haben; dieser wäre sonst möglicherweise der Gemeinde zur Last
gefallen. Emma Kirners Geschwister wurden, soweit sie nicht früh verstarben, alle von den Nazis ermordet. Juden
in Emmerich (wie Anm. 39). - Ihr Mann Gustav Ernst Kirner wurde, ganz offenbar denunziert, im Dezember
1939 wegen Abhörens von Auslandsendern von der Gestapo Freiburg verhaftet, jedoch nach 10 Tagen aufgrund
eines Gnadenerweises wieder aus der Schutzhaft entlassen. Möglicherweise schon vor der Verhaftung war
ihm der Wandergewerbeschein entzogen worden, so dass seine Frau die Firma übernahm (siehe oben). StAF, F
196/2 Nr. 2743 (Wiedergutmachung Gustav Ernst Kirner, 1945-1947). (Die Wiedergutmachungsakte Emma Kirners
, ebd. Nr. 2742, enthält keine Informationen zur NS-Zeit.) - Emma Kirner starb am 23.7.1949 in Bollschweil;
sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Freiburg bestattet. StadtAF, B1/418 (Dokumentation des Jüdischen
Friedhofs Freiburg), Nr. 578. Vgl. auch Anm. 39.

77 Kaschnitz (wie Anm. 75), S. 72. Unter den Stichworten zu ihrem Bollschweil-Text, die sie in ihr Tagebuch notierte
, findet sich das Kinderheim ebenfalls nicht. Kaschnitz (wie Anm. 1), S. 896f. - Bedenken, Bollschweiler
NS-Verbrechen anzusprechen, waren es nicht, die Marie Luise Kaschnitz bestimmten, das jüdische Kinderheim
zu übergehen; auf Pfarrer Fränznick verweist sie in ihrer Beschreibung eines Dorfes ebenso wie auf den am Waldrand
erhängten Polen, dem sie eine eigene Erzählung - „Märzwind" - gewidmet hat. Und so hat sie auch die
Verfolgung der Juden nicht ausgeklammert: In ihrer Erzählung „Das rote Netz" schildert sie das Schicksal ihrer
Marburger Freundin Marieluise Hensel, die bei dem Versuch, jüdischen Menschen zur Flucht in die Schweiz zu
verhelfen, verhaftet wurde und die in der Haft Selbstmord beging (vgl. Gersdorff [wie Anm. 30], S. 121). So
war es wohl eher Rücksichtnahme auf die Familie, dass sie das Bollschweiler Kinderheim mit Schweigen überging
. Ihre Eltern vor der Öffentlichkeit mit kritischer Distanz zu schildern, hat Marie Luise Kaschnitz sich zeitlebens
geweigert, und das mag auch hier eine Rolle gespielt haben. Denn das Ende des jüdischen Kinderheims,
das war ihr bewusst, hat ihre Mutter durch ihr inhumanes Agitieren in der NS-Frauenschaft durchaus mitverschuldet
. Die Verhaftung des Pfarrers und die Ermordung des Zwangsarbeiters hat sie dagegen, 1941 verstorben,
nicht mehr erlebt.

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