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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2011/0217
Familien ebenfalls umzulegen: Diese waren für die Kriegswirtschaft noch nützlich und wurden erst ab
Herbst 1943 vernichtet. Zu dieser Zeit war Jäger bereits von seinem Posten abgelöst worden. Er fand Verwendung
im Einsatz gegen Partisanen (dazu sind keine Quellen bekannt), später wurde er Polizeipräsident
von Reichenberg im Sudetenland.

Nach Kriegsende 1945 lebte Jäger unerkannt unter seinem richtigen Namen. Er verließ seine zweite
Frau, die er 1940 geheiratet hatte, kehrte kurzzeitig nach Waldkirch zurück und betätigte sich dann in der
Nähe von Heidelberg als Landarbeiter. Da er auf dem entsprechenden Fragebogen jegliche Mitgliedschaft
und Funktionen in nationalsozialistischen Organisationen abstritt, wurde er im Entnazifizierungsverfahren
als „Nichtbelasteter" eingestuft. 1959 kam es dann doch zur Verhaftung und Vernehmung, da Jägers Name
in einem anderen Prozess aufgetaucht war. Jäger gab sein Amt in Litauen zu, leugnete aber eine persönliche
Mittäterschaft. Er sei stets ein Mensch mit höherer Pflichtauffassung gewesen, habe lediglich Befehle
ausgeführt und sei nicht schuldig. Bevor der Prozess gegen ihn eröffnet werden konnte, erhängte sich Jäger
in seiner Zelle. In seinem Abschiedsbrief an den Vernehmungsbeamten wiederholte er: Ich habe kein
Verbrechen begangen und habe keine Schuld auf mich geladen. Zugleich betonte er aber auch, dass ihn
sein Gedächtnis und Erinnerungsvermögen vollständig verlassen habe.

Wolfram Wette zeichnet eingehend Jägers uneingeschränkte nationalsozialistische Überzeugung nach,
die ihn die systematische Ausrottung der Juden und Kommunisten bejahen ließ. Wette weist jedoch auch
mehrfach darauf hin, dass Jäger von der Wirklichkeit der Massenmorde nicht unberührt blieb. Die erste
Konfrontation mit den Massenerschießungen zeigte ihn offensichtlich erschüttert, und es brauchte Zeit, bis
er sich daran gewöhnte. 1942 soll Jäger erzählt haben, er könne kaum noch schlafen, weil er immer die
erschossenen Frauen und Kinder sehe. Möglicherweise waren diese Belastungen ein Grund für Jägers
Ablösung am 1. August 1943 und seine ausbleibende Beförderung. Nach dem Krieg pflegte Jäger keine
Kontakte zu seinen früheren Kameraden und gehörte keinem der SS-Netzwerke an. Auch sein unstetes
Privatleben deutet auf Unsicherheiten hin. Sein Verhalten in den Vernehmungen und sein Abschiedsbrief
könnten dahingehend gedeutet werden - Wette verzichtet auf derartige Spekulationen -, dass Jäger seine
furchtbaren Erlebnisse in Litauen nicht verarbeiten konnte, sie von seiner Erinnerung abspaltete, einen
Panzer um sich legte und auf diese Weise keinen Gedanken an seine Verbrechen mehr an sich heranließ.
Aus Angst, von diesen Erinnerungen überwältigt zu werden, konstruierte er sich das Bild, persönlich anständig
geblieben zu sein. Dies wurde dadurch erleichtert, dass er über einen verinnerlichten Bezugsrahmen
verfügen konnte: die angebliche Notwendigkeit der befohlenen Judenvernichtung. Damit steht
Jäger, vergleicht man sein Verhalten mit dem anderer nationalsozialistischen Täter, nicht allein.

Seine Entwicklung und seine Laufbahn bleiben auch im Buch nicht isoliert. Wette macht fassbar, unter
welchen Umständen Karl Jäger handelte. Er ordnet dessen Leben in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse
ein, stellt die Kommandostrukturen und das Milieu dar, in dem Jäger wirkte, beschreibt die
Einrichtungen der Besatzungsherrschaft und die Möglichkeiten zum Widerstand. Ebenso geht er auf die
Lebensbedingungen für die Juden in den Ghettos ein, auf die Vernichtungspolitik, die Rolle der litauischen
Helfershelfer und die Gründe für deren antijüdische Ausschreitungen. Eindrucksvoll bezieht Wette auch
die Perspektive der Opfer ein: Immer wieder schildert er Schicksale von Juden, die in Litauen ermordet
wurden oder überleben konnten. In einem Bericht wird beispielhaft sichtbar, dass Jäger ganz persönlich
für die Morde verantwortlich war und nicht nur Befehle ausführte: 1942 kam er in Kontakt zu dem jüdischen
Musikerehepaar Edwin und Lyda Geist. Offenbar verstanden sie sich gut, vielleicht wegen der Liebe
zur Musik. Es wäre möglich gewesen, dass das Ehepaar das Ghetto hätte verlassen könne, unter der Bedingung
, sich sterilisieren zu lassen. Als es sich weigerte, befahl Jäger die Ermordung Edwin Geists. Seine
Frau nahm sich das Leben.

Wolfram Wette hat ein bewegendes Buch vorgelegt, das die Vorzüge einer mehrperspektivischen
Geschichtsschreibung beweist. Es ist ein Meilenstein bei der Erforschung der nationalsozialistischen Täter
und des Umgangs mit Erinnerung. Dieses Buch über Karl Jäger ist wichtig für die Opfer, die unter seiner
Verantwortung unvorstellbare Qualen erleiden mussten und ermordet wurden. Wir Leser können nachvollziehen
, wie ein „ganz normaler Mensch", ein Mensch wie wir, zum Mörder werden konnte. Darüber hinaus
trägt das Buch dazu bei, dass wir nicht selbst einen Panzer um unsere Erinnerung legen, sondern uns
offen mit der Geschichte auseinandersetzen, damit wir auch offen mit heutigen Problemen umgehen können
- Erinnerung bestimmt unser Handeln. Heiko Haumann

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