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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1970/0119
Süddeutschland und die Reichsgründung

Ignaz Döllinger den König, sich ja nicht von einer Mehrheit im Parlament die
Minister aufdrängen zu lassen und damit ein „gefährliches Präzedenz" zu schaffen
8l. Ebenso Hohenlohe selber. „Nie", schrieb er an Ludwig II., „haben sich die
Monarchen Bayerns vom konstitutionellen Weg entfernt" M. Dieselbe Haltung nahm
Justiz- und Kultusminister Johann Lutz ein34. Es sind drei liberale Katholiken:
Döllinger, aus einer Gelehrtenfamilie stammend, der Vertreter eines katholischen
Bildungsbürgertums, das in Süddeutschland verhältnismäßig stark war, Hohenlohe
ein süddeutsch-aristokratischer Whig, und Lutz, der sich aus kleinen Verhältnissen an
die Spitze der Beamtenhierarchie emporgearbeitet hatte. Nun stellten sie sich betont
hinter den konstitutionellen Staat gegen die Gefahr einer Parlamentarisierung, wie
sie von Seiten der Patrioten drohte. Zugleich verweigerte damit eine „Oberschicht
gebildeter Staatskatholiken" 35 den populären Kräften - in ihrer Sicht wie in der
des liberalen Bildungsbürgertums überhaupt den „Haufen des ungebildeten Volkes
" - die politische Gleichberechtigung. Dabei konnten sie sich auf einen König
stützen, in dessen morbider Persönlichkeit der Autokratismus der Wittelsbacher eine
skurril-kompensatorische Zuspitzung erfuhr. Der Polarisierung der Kräfte entsprachen
somit auch unterschiedliche verfassungspolitische Vorstellungen. Hier die Vertreter
der konstitutionellen Staatsidee, die Fürsten, die liberale Beamtenschaft und
das liberale Bürgertum, dort die populären Kräfte, die über den konstitutionellen
Staat in Richtung parlamentarisch-demokratischer Verfassungsformen hinauswollten
. Dies gilt auch dann, wenn der Antrieb dazu einer konservativen, ja sozial
regressiven Haltung entsprang. „Der moderne Liberalismus ist die Herrschaftsform
der Bourgeoisie", erklärte Jörg; (etwas deutlicher: Der Konstitutionalismus ist das
Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie). „Die konservativen Elemente in ihrem
Widerstand gegen die Alleinherrschaft der einen sozialen Klasse sehen sich mit Notwendigkeit
auf demokratischen Boden hinübergedrängt; sie müssen sich gegen die
übergreifende Klassenherrschaft auf die große und breite Volksmasse stützen." 36
Diese Demokratie als eine nach vorn gerichtete Fluchthaltung Konservativer traf
sich nun mit demokratisch-genuinen Ansätzen in einer Bevölkerung, die nach einer
Selbstanalyse von 1869 mehrheitlich den „ärmeren Klassen" angehörte37, so daß
gerade die klerikal-katholische Bewegung eine ansehnliche Massenbasis erlangen und
in Verbindung mit anderen Gruppen dann den an sich natürlichsten Weg zur nationalen
Einheit, den Weg über das international mehr oder weniger anerkannte
Prinzip der nationalen Selbstbestimmung mit Erfolg blockieren konnte.

Die Wirkung nun, die der Aufmarsch der populären Kräfte auf die süddeutschen

32 S. /. Friedrich: Ignaz von Döllinger. 3 Bde., München 1899-1901. Bd. 3. S. 475 f.

33 S. Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. 2 Bde., Leipzig 1907.
Bd. 1. S. 437.

34 Über Lutz, den »liberalen Katholiken im Ministeramt", s. Walter Gasser: Johann Freiherr von
Lutz (Eine politische Biographie) 1826-1890. München 1967.

35 Gasser: Lutz. S. 70.

36 H.P.B1. 65 (1870) S. 642. In einem Rückblick über die Wahlrechtsreform in England von 1867,
die von den Konservativen durchgeführt wurde und eben deshalb auch in konservativen Kreisen
Deutschlands starke Beachtung fand.

37 S. Niedermayer: Die katholische Bewegung. Jg. 1869. S. 49 ff. Über die soziale Stellung der
katholischen Bevölkerung Clemens Bauer: Der deutsche Katholizismus und die bürgerliche Gesellschaft
. In: Bauer: Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile. Frankfurt 1964.
S. 28-53.

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