Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1973/0183
Besprechungen

Der landeskundliche Ertrag ist für den primär an südwestdeutschen Verhältnissen
orientierten Historiker nicht überwältigend. Er erfährt Wissenswertes über das Schröpfen
und Aderlassen der Bauern im badischen Oberland (S. 39), vom „Krieg gegen die Zensur",
den die badische Kammer in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegen die dortige
Regierung führte, sowie von der spektakulären „Eröffnung der ersten badischen Eisenbahn
von Mannheim nach Heidelberg" im Jahre 1850 (S. 373 ff.). Der hohenzollerische Süden
fällt ganz aus. Württemberg ist durch statistisches Zahlenmaterial über Kinderarbeit vertreten
(S. 242), desgleichen durch ein lesenswertes Kapitel aus den „Denkwürdigkeiten"
des württembergischen Landtagsabgeordneten und streitbaren Literaturkritikers Wolfgang
Menzel (1798-1873). Menzel bestätigte dem „Volksstamm im Neckarthal", daß er „nicht
sehr anschmiegsam und gewandt" ist, „auch nicht sehr mittheilsam und redselig, aber solid
von Charakter, gut geschult und daher reich an Kenntnissen" (S. 94).

Dessen ungeachtet enthält das Buch eine Fülle von Materialien, die geeignet sind, den
Problemstellungen des Lokal- und Regionalhistorikers allgemeinere Perspektiven zu eröffnen
. Der begrenzte Rahmen einer Rezension reicht freilich nicht aus, um die Fülle der
dokumentierten Themen in extenso auszubreiten. Der Bogen spannt sich von den Lohn-
und Arbeitsverhältnissen des Industrieproletariats bis zur gesellschaftlichen Exklusivität
der Berliner Hofgesellschaft und Wiener Aristokratie, von den sozialen Vorurteilen gegen
die Erwerbstätigkeit der Frau bis zu leidlichen Konzessionen an überholte ständische Leitbilder
(so z.B., wenn Konfirmanden im Konfirmandenunterricht nach Rang und Besitz
ihrer Eltern plaziert wurden). Es ist die Rede von den Segnungen der Kanalisation, welche
städtische Rinnsteine von Schmutz und übelriechendem „Odeur" befreiten, von Zunftzwang
und Gewerbefreiheit, Mode und Haartracht, von standesbewußter gesellschaftlicher
Etikette und allgemeiner „Demokratisierung" der Anredeformen, die ihren Charakter als
standeskonservierende Rituale mehr und mehr einbüßten. (Wem ist heute eigentlich noch
bewußt, daß die Anrede „Fräulein" ehedem nur den Töchtern des Adels gebührte, während
ein Mädchen geringeren Standes schlicht mit „Jungfer", eine Frauensperson aus besserer Familie
jedoch mit „Mamsell" tituliert wurde).

Der Autor akzentuiert insbesondere die geistigen, sozialen und politischen Folgen technischer
Errungenschaften. Das ruhige Licht von Öllampen z. B. gestattete, wie sich Zeitgenossen
des 19. Jahrhunderts vernehmen ließen, „den Familien an den Winterabenden
höhere geistige Unterhaltung durch Lesen von Druckschriften", während „das flackernde
Licht der billigen, stark rußenden Lichtspäne" nicht zum Lesen taugte und deshalb geistiger
Bildung hinderlich war (S. 50). Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch jene
Texte, welche die Bedeutung der Eisenbahn für allgemeine wirtschaftliche Wohlfahrt, für
soziale Mobilität und politische Kommunikation verdeutlichen. Denn ehe es Eisenbahnen
gab, reisten, wie immer wieder betont wurde, nur die „Mitglieder der bevorzugten Gesellschaftsklassen
", weshalb König Ernst August von Hannover, als er den Bau der ersten Eisenbahn
im Hannoverschen genehmigen sollte, den vielsagenden Ausspruch tat: „Ich will
keine Eisenbahnen im Lande; ich will nicht, daß jeder Schuster und Schneider so rasch reisen
kann wie ich" (S. 351). Aber selbst Monarchen konnten das Rad der Zeit nicht mehr
zurückdrehen. Die „völkerverbindenden Eisenbahnen, die gedankenschnellen, indiskreten
Telegraphen", eröffneten Kommunikationsmöglichkeiten, die, wenn sie von radikal gesinnten
Demokraten genutzt wurden, „den Frieden der Herrscher und die Ruhe des täglichen
Lebens" empfindlich stören konnten (S. 133).

Man wird dem Autor allerdings nicht vorbehaltlos folgen können, wenn er den
„Emanzipationsprozeß" des 19. Jahrhunderts als primär „technik-geschichtlich begründeten
" Sachverhalt zu begreifen sucht. Es heißt die geschichtsbildende Kraft politischer
Ideen erheblich unterschätzen, wenn man den Wandel der vorrevolutionären Ständegesellschaft
zur egalitären Staatsbürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts, den Erwerb von Verfassungsgarantien
für Rechtsgleichheit und politischer Mitsprache oder den Gedanken des
sozialen Rechtsstaates ausschließlich „vom technischen Durchbruch und der ihm folgenden
Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse" abhängig macht (S. XIV f.).

165


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1973/0183