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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1976/0237
Besprechungen

chen Organe und Institutionen der Ulmer Stadtverfassung; er beschreibt Zusammenhänge
zwischen Sozialstruktur und innerstädtischer Machtverteilung. Die Umbildung des Rates
von einem Gremium kommunaler Selbstverwaltung zu einer mit obrigkeitlichen Befugnissen
ausgestatteten Instanz wird einleuchtend herausgearbeitet, desgleichen das soziale Be-
ziehungsgefüge der Ulmer Stadtgesellschaft. (Die Arbeit bringt allerdings keine quantitativen
Angaben über die allgemeine Vermögensverteilung oder den Anteil der einzelnen
Schichten an der städtischen Gesamtbevölkerung.)

Mit Hilfe umsichtig eruierter Einzeldaten entwirft der Verfasser ein konturenreiches
Bild über das geistige Leben Ulms (Schule, Pflege der Medizin und Jurisprudenz, Formen
und Träger des jüngeren und älteren Humanismus) im späten 15. und beginnenden
16. Jahrhundert. Eingehend befaßt er sich mit rechtlichen, theologischen, ethischen und
volksfrommen Aspekten des Ulmer Kirchenwesens. Er untersucht den Rechtsstatus der Ulmer
Pfarrkirche und dessen für die Geschichte des Pfarrkirchenrechtes höchst aufschlußreichen
Wandlungen. Überdies werden die rechtlichen Abhängigkeitsverhältnisse, welche
der Rat in Form der Pflegschaft, Schirm- und Gerichtsvogtei zwischen Stadt und Klöstern
begründete, kenntnisreich herausgearbeitet. Geiger kann gleichfalls einleuchtend machen
, daß die klösterlichen Reforminitiativen des Rates nicht allein aus religiösen Antrieben
ins Werk gesetzt wurden, sondern gleichzeitig darauf abzielten, den städtischen „Einfluß
auf innere Angelegenheiten der Klöster" (S. 99) zu verstärken.

Wertvolles Datenmaterial für eine Sozialgeschichte des spätmittelalterlichen Klerus
haben Geigers subtile Untersuchungen über den „Ulmer Pfarrklerus", seine Herkunft, seine
Einkommensverhältnisse, seine Bildung, Amtsführung und Verhaltensweise zutage gefördert
. Die Sozialgestalt des Ulmer Pfarrklerus war, wie der Verfasser nachweist, ein getreues
Abbild der profanen Ständehierarchie. An der Spitze der Ulmer Pfarrherrschaft
stand der (in der Regel dem Patriziat entstammende) Pleban mit einem Jahreseinkommen
von 600 Gulden; die klerikale Unterschicht bildeten „pfründenlose Kleriker" (clerici non
beneficiati), der „omnino pauper" bzw. „pauperrismus", der als einfacher, recht und
schlecht bezahlter Lohnpriester die Pfründe eines absenten Pfründners verwaltete. (Schade
, daß es der Autor unterläßt, die ermittelten Einkommensziffern zum städtischen Preisindex
in Beziehung zu setzen, um auf diese Weise ein Bild über den tatsächlichen Realwert
der stark divergierenden Einkünfte zu bekommen.)

Was den Lebensstil der Ulmer Kleriker anbetrifft, so fehlt es nicht an Klagen über
das pflichtvergessene „unordentlich, unloblich, ergerlich leben" mancher Kleriker, die
wacker Karten spielten, fluchten, zechten, Raufhändel vom Zaune brachen, Totschlag verübten
, mit der Pfarrmagd im Konkubinat lebten oder Unzuchtsdelikte begingen. Die aus
den Quellen zusammengestellte „chronique scandaleuse" bringt für den reformationsgeschichtlichen
Kenner und Interessierten das eh und je Bekannte. Will man das düstere Sittenbild
verallgemeinern, bliebe allerdings zu bedenken: „Normalia non sunt in actis". Was
sich von selbst versteht, wurde auch nicht aufgeschrieben. Kassandrarufe sind gemeinhin
literarisch ergiebiger als das glanzlose Registrieren von Verhältnissen, die halbwegs der
Norm entsprechen. Dessen ungeachtet kann man dem Autor beipflichten, wenn er den
„gemeinsamen Nenner" zwischen den sittlichen Verfallserscheinungen des allgemeinen
Volkslebens und den Exzessen ungezügelter Kleriker „in der gewalttätigen, groben Mentalität
sowie in der ungehemmten Genußsucht" (S. 177) zu finden glaubt. Das entspricht
auch dem, was bereits Huizinga („Herbst des Mittelalters") oder Stadelmann („Vom Geist
des ausgehenden Mittelalters") über Spannungen und Widersprüche spätmittelalterlichen
Lebens gesagt haben.

Geigers Arbeit ist eine solid gearbeitete Bestandsaufnahme über einen fraglos relevanten
Gegenstand südwestdeutscher Reformationsforschung. Dem kritischen (nicht besserwissenden
) Rezensenten bleibt freilich auch noch die Pflicht, Anfragen zu formulieren, Bedenken
zu äußern, auf Unzulänglichkeiten hinzuweisen oder Ergänzungen anzubringen.
Der Autor will, wie er einleitend sagt, „neben dem städtischen Leben das kirchliche eingehend
und zutreffend" behandeln (S. 9). Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, daß

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