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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1983/0209
Besprechungen

dem stark besuchten Wallfahrts- und Kultzentrum Monheim spielte. Die auf vier Bücher verteilten
Wundergeschichten aus den Jahren 893 bis etwa 899 geben auf eindrucksvolle Weise zu erkennen, welche
Anziehungskraft von der wundertätigen Walpurgis auf alle Schichten der mittelalterlichen Gesellschaft
ausging. In den mitunter überaus minuziösen Beschreibungen der wunderbaren Heilungsvorgänge
gewinnen physische Gebrechen, psychische Ängste und religiöse Hoffnungen einer vergangenen Zeit
anschauliche Gegenwart. In der Tat: »Wir erfahren vieles, was in anderen Quellen keine Erwähnung findet«
(S- 9).

Aufmerksamkeit verdienen nicht zuletzt all jene Angaben, welche das Monheimer »Mirakelbuch« zur
Realgeschichte des ausgehenden 9. Jahrhundens, insbesondere zur gewerblichen Tätigkeit von Frauen,
beiträgt. In dem Text werden wiederholt Weberinnen erwähnt; an einer Stelle ist sogar von »Arbeitsräumen
« (zetae) die Rede (S. 177), in welchen mehrere Frauen tätig sind. Der Verfasser spricht denn auch von
den »im Webereibetrieb der Geila von Stopfenheim tätigen Frauen« (S. 57). Die vom Verfasser als
»Webereibetrieb« charakterisierte Einrichtung gewinnt an historischem Profil, wenn man sie als Gynae-
ceum versteht, nämlich als Werkstätte eines Herrenhofes, in welcher Wolltuche hergestellt werden. (Einen
zusammenfassenden Uberblick über Gynaeceen des frühen und hohen Mittelalters bringt F. Irsigler:
Urbanisierung und sozialer Wandel in Nordwesteuropa im 11. bis 14. Jahrhundert. In: Sozialwissenschaften
im Studium des Rechts. Bd. IV, hg. v. Gerhard Dächer und Norbert Horn. München 1978, S. 177ff.)

Was bei einer kritischen Lektüre des Buches überdies auffällt, sind einige Druckfehler, die sich kaum
vermeiden lassen und als Belege menschlicher Irrtumsfähigkeit wohlwollende Nachsicht verdienen. Auf
S. 199 Anm. 9 muß es anstelle von »Graus, 843« richtig »Graus, 483« heißen; S. 285 ist die »wuderbare
Weise« als »wunderbare Weise« zu lesen. Es besteht auch kein zureichender Grund dafür, daß sich der
Autor nicht entschließen konnte, die lateinischen Ortsnamen konsequent ins Deutsche zu übersetzen. Die
»fines Eihstatenses« (S. 160) übersetzt er mit »das Gebiet von Eihstat«; weil mit dem »Campidunense
monasterium« (S. 256) der Normalleser nichts anzufangen weiß, wird es ohne historische Patina mit
»Kloster Kempten« übersetzt. »Mura« wird einmal mit »Mauren«, dann mit »Maura« wiedergegeben
(S. 183). Die eine oder andere Übersetzung klingt altfränkisch und modernistisch. Es besteht kein Anlaß,
»familia« mit »Familiengefolgschaft« (S. 329) oder »fidi collegae« mit »treue Kameraden« (S. 285), die
»omnis communis sexus familia« (S. 170) mit »der gesamte weibliche Dienst« (S. 117) zu übertragen. Es ist
auch viel zu viel des guten getan, wenn die Frau, die eines »negotium« wegen über Land reitet, als
»Unternehmerin« (S. 42) bezeichnet wird.

Unsicherheiten geben gleichfalls Übersetzungen von rechtlichen Abhängigkeitsbeziehungen zu erkennen
. Von der S. 328 erwähnten »sui iuris et dominationis ancilla« wird gesagt, daß sie »ihrer [bezogen auf
Herr, Gemahlin und Familiengefolgschaft] Jurisdiktion und Herrschaft hörig war«. Der frühmittelalterliche
Chronist dürfte doch wohl eher gemeint haben, daß die Magd »seiner [bezogen auf Herr] Gerichtsbarkeit
und Verfügungsgewalt« unterstellt war, zumal im folgenden Abschnitt gesagt wird, der Herr der Magd
habe es schließlich für vernünftiger erachtet, »sie in aller Öffentlichkeit in den Besitz der Jungfrau
[Walpurgis] aus seinem Rechtsanspruch zu entlassen« (»ut eam patenter virginis dominio ex suo iure
contraderet»). Auch an dieser Stelle müßte es wohl lesbarer und genauer heißen, daß der Herr seine Magd
aus seiner Gerichtshoheit entließ und der heiligen Jungfrau Walpurgis übereignete.

Wenn, wie der Verfasser einleitend zu Recht bemerkt, das »Mirakelbuch« den »Weg zur Mentalität des
einfachen Mannes« eröffnet (S. 9), weiß der Leser nicht recht, was er mit der Behauptung anfangen soll,
wonach die hl. Walpurgis von der Ordensheiligen »zur Adelsheiligen« emporgestiegen sei (S. 43). Weder
hielt es Wolfhard für wichtig, auf die adlige Abstammung der hl. Walpurgis hinzuweisen, noch legte er Wert
darauf, sie als vorbildhafte Verkörperung adliger Werte und Tugenden seinen Lesern und Hörern
nahezubringen. Er beschreibt sie vielmehr als Heilige, die willens und fähig war, die Erwartungen aller
Gesellschaftsschichten, der Freien und Unfreien, der Herren und Bettler, der adligen Damen und unfreien
Mägde, zu erfüllen.

Dem Autor liegt daran, insbesondere den frömmigkeits- und sozialgeschichtlichen Erkenntniswert des
Textes kenntlich zu machen. Fragestellungen philologischer und literatur-historischer Art treten deshalb in
den Hintergrund. Der Verfasser beschreibt weder die von Wolfhard gebrauchten Stilmittel noch stellt er
Erwägungen über den möglichen und tatsächlichen Rezipientenkreis des »Mirakelbuches« an.

Gleichwohl: Kritische Randbemerkungen sind nicht deshalb zu Papier gebracht worden, um dem Buch
wissenschaftliche Solidität abzusprechen. Im Gegenteil: Nur gehaltvolle Bücher lohnen der aufmerksamen
Lektüre und eingehenden Auseinandersetzung. Das Buch ist überdies durch ein Orts-, Personen- und
Sachregister vorbildlich erschlossen.

Bielefeld Klaus Schreiner

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