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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1983/0217
Besprechungen

schichtlichen Zeitschrift zu besprechen, mag auf den ersten Blick als abseitig, als Flucht ins Exotische
erscheinen. Denn, um nur einen der Beiträge aufzugreifen, was soll ihrem Leser die besondere Form des
Geschichtsbewußtseins der Ilongots, eines Kopfjägerstamms im nördlichen Luzon auf den Philippinen?
Weshalb also soll ein solcher Band das Interesse des landesgeschichtlich Interessierten beanspruchen
können oder anders gefragt, was hält diese Sammlung von höchst Verschiedenartigem zusammen, was ist
das gemeinsame Anliegen der Mitarbeiter dieses Sammelbandes?

Das Anliegen der Autoren ist, wie Titel und Untertitel des Bandes signalisieren, ein doppeltes, es geht
ihnen um »sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung« und - so der Titel des
Bandes - um das Problem von »Kultur und Klassen«. Damit soll aber nicht - wie leicht vermutet werden
könnte - den vielfachen Anleihen bei anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, wie sie für einen Teil
der neueren Geschichtswissenschaft kennzeichnend sind, eine neue hinzugefügt werden, gewissermaßen
Sozialanthropologie als weitere Steinbruchwissenschaft, bei der sich der Historiker bedient. Vielmehr
wollen die Autoren gerade eine mögliche Antwort auf das wachsende Unbehagen an derartigen Anleihen
wie auch das zunehmende Bewußtsein für ungelöste Probleme und Sackgassen der Sozialgeschichte geben.
Die in dem Band zusammengestellten Beiträge verstehen sich dabei als exemplarisch intensiv beschriebene
Fälle, die in empirisch dichten Untersuchungen, wie sie typisch sind für die Sozialanthropologie, den
analytischen Wert derartiger Fragestellungen und Perspektiven aufzeigen. Sie wollen, so Robert M. Berdahl
in seinem Beitrag, »als Beispiele einer Methode dienen, die auch andere Historiker fruchtbar finden
könnten«.

Inhaltlich gesehen kreisen die Aufsätze um das Problem von Kultur und Klassen, wobei die Autoren in
einer gemeinsamen Einleitung in Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff der Sozialanthropologie und
der für diese Wissenschaft typischen Form der Analyse von Gesellschaften ihren Begriff von Kultur und
Klassen darlegen. Kultur wird dabei nicht als die Versammlung von Artefakten, Texten, Glaubenssystemen
usw. thematisiert, die als eigenständiger Sektor scheinbar abgehoben ist von anderen Bereichen historischer
Realität, nicht als Phänomen, das abgehoben ist auch vom Alltag und der Lebensweise einer Bevölkerung,
sondern gerade dort aufgesucht. Im Vordergrund steht also nicht Kultur als Ensemble von kulturellen
Objektivationen sondern als die Erfahrungsweisen, in denen gesellschaftliche Beziehungen wahrgenommen
, ausgedrückt und auch vermittelt sind. In dieser Situierung von Kultur in der Produktion und
Reproduktion alltäglichen Lebens liegt auch der Zusammenhang zum Klassenbegriff. Klasse wird nämlich
von den Autoren nicht als >Ding< definiert, das vornehmlich quantitativ vermessen und in einem Aggregat
von Daten erfaßt werden kann, sondern als Geflecht von Beziehungen, Handlungen und Austauschverhältnissen
, wobei dieses Beziehungsgeflecht eben durch die kulturell geprägten Erfahrungsweisen vermittelt
wahrgenommen wird.

Die ersten drei Beiträge des Bandes zeigen in fast mikroskopisch zu nennenden Untersuchungen, wie
Kultur als Ensemble von Erfahrungsweisen in Prozessen gesellschaftlicher Arbeit und Produktion die
Beziehungen der Beteiligten vermittelt und orientiert. Carlo Poni deckt in seinem Beitrag »Maß für Maß.
Wie der Seidenfaden rund und dünn wurde.« auf, daß sich im Kampf um die Dicke im oberitalienischen
Seidengewerbe des 18. Jahrhunderts hinter einer Veränderung der Produktion eine Auseinandersetzung
von gesellschaftlichen Klassen und Gruppen verbirgt, in der die Arbeitenden ihre Mitkontrolle des
Produktionsprozesses und ein Stück Selbstbestimmung in einer Produktions- und Lebensweise verteidigen
. David Sabean zeigt an Beispielen aus dem schwäbischen Neckarhausen, daß die Zunahme unehelicher
Geburten im späten 18. Jahrhundert nicht Ergebnis freierer sexueller Beziehungen, eines Wunsches nach
Freiheit und eines expressiven Individualismus (so Edward Shorter) ist, sondern eng mit dem Wandel der
agrarischen Produktion zusammenhängt. William Reddy arbeitet in einer akribisch genauen Untersuchung
heraus, wie der >Tarif Generale nach welchem nordfranzösische Leinenweber im späten 19. Jahrhundert
bezahlt wurden, den Lebenszyklus dieser Arbeiter widerspiegelt, und vermag so zu zeigen, daß deren Streik
im Jahre 1903, den die damaligen Gewerkschaftsführer irrigerweise für einen Lohnkampf hielten, ein
Kampf um eine bestimmt Organisation der Arbeit war, die ihren Sinn gerade vor dem Hintergrund des
Lebenszyklus der Leinenweber hatte.

Die weiteren Beiträge des Bandes zeigen, wie Kultur Klassenbeziehungen vermittelt, daß sie ein Mittel
ist, Herrschaft durchzusetzen und auszuüben, daß sie aber auch die Arena für Verweigerung, Opposition
und Widerstand ist. Gerald Sider macht in einem anregenden und in seinen methodischen und theoretischen
Überleguingen weit über das Thema hinausreichenden Beitrag deutlich, wie in der Dorffischerei Neufundlands
die Organisation der Produktion und eine spezifische Form der Herrschaftsausübung, die zur
Isolation der Familien führt, die Herausbildung eines kollektiven Bewußtseins verhindert, Veränderungen
der Arbeit und der Lebensverhältnisse nur individuell begreifbar werden läßt und so auch einem Widerstand

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