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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0015
Lernen aus der Geschichte?

aufzunehmen, die man vielfach nutzbringend auf das eigene Leben übertragen kann; nicht nur
den größten und weittragendsten Entschlüssen großer Männer, sondern - was wir Sterbliche am
sehnlichsten wünschen - auch den sich daraus ergebenden Konsequenzen beizuwohnen und so

- was wegen der Kürze des menschlichen Lebens sonst wohl kaum möglich ist - ganze
Jahrhunderte im Gedächtnis zusammenzufassen; riesiger Reiche Anfang, Entwicklung und
Ende zu sehen; die Ursachen schlimmer Schicksale - sei es im privaten oder im staatlichen Bereich
- klar zu erkennen; in jeder schwierigen Lage von großer Tragweite jemanden zu haben,
der die betreffende Situation schon erprobt, der einem in einer Gefahr vorangeht; nirgends ohne
zuverlässige Erfahrung zu sein, kurz gesagt: aufgrund von vorher Geschehenem - was den
weisen Mann recht eigentlich auszeichnet - die Zukunft bewußt bis in alle Konsequenzen hinein
vorauszusehen und die Gegenwart richtig einzuordnen?

II. Je fruchtbarer an Nutzen die Geschichte aber ist, umso besser vorbereitet muß man an sie
herangehen. Da es ferner schwierig ist, Gleichartiges im eigenen und im Leben anderer richtig
zu beurteilen, und da niemand - auch wenn wir hier recht scharfsichtig sind - ein fremdes Leben
recht beurteilen kann, der dies nicht bei seinem eigenen zu tun vermag, so kann man daraus
beides ersehen: einmal, daß hier die eigentliche Schwierigkeit liegt und zweitens, daß wir, bevor
wir hier herangehen, nicht nur lediglich mit einer gewissen bürgerlichen Klugheit eingefärbt
sein, sondern vielmehr einen das ganze Leben umspannenden Lebensplan haben und darin
gefestigt sein müssen, wenn wir nicht innerlich schwanken und ständig von eitlen Trugbildern
des Lebens jämmerlich genarrt werden wollen. Ich will einen Vergleich anführen: Stellen wir
uns ein sehr prächtiges und vielfältiges Mahl vor, voll von Leckerbissen jeglicher Art. Da nun
reizt jeden etwas anderes, nur wenige dasselbe, jeden das Seine und nur die Gefräßigen alles.
Und so fühlt sich jeder je nach seinem Geschmack zu den aufgetragenen Köstlichkeiten
hingezogen. Und doch gibt es ein von der Natur gesetztes Maß, und die echten, einfachen und
unverfälschten Nahrungsmittel sind für den Körper am besten geeignet. Wenn nun einer von
einem der beiden abweicht und entweder über das Maß oder das Urteil der Natur hinaus seinen
Neigungen frönt, so dürfte er wohl mehr Nachteil aus diesen Genüssen als Gewinn ernten.
Ebenso gibt es bei der Vielfalt des ganzen menschlichen Lebens tausend Formen, tausend
Entwürfe des Lebens, und wie jeder von seinen Neigungen oder seiner Einstellung her
beschaffen ist, so wird er wohl über sein eigenes oder das Leben anderer urteilen. Und dennoch
gibt es nur einen Weg der Tugend. Und nur wer diesen bewußt verfolgt, lebt richtig. Die
übrigen können, wie jene bei dem vielfältigen verlockenden Mahl, weder in ihrem eigenen noch
im Leben anderer, je das finden, was sie zuerst erstreben und wonach sie am ehesten trachten
sollen. Wenn aber dem Menschen von der Natur etwas gegeben ist, mit dem er richtig oder
falsch umgehen kann, dann müßte er damit doch wohl äußerst sorgfältig umgehen. Leider aber
gibt es sehr wenige, die unter Anwendung der Richtschnur der Tugend auf alle Worte und Taten

- seien es eigene oder fremde - sorgfältiger achtgeben als auf aufgetragene Speisen. Denn darin
halten sich die meisten für hinlänglich gebildet. Dabei täuschen sich die Menschen ganz
außerordentlich, wenn sie glauben, die Geschichte belehre den Leser. Nein, sie stellt nur
Material zum Lernen bereit und stellt jedem - genau wie das oben angeführte Mahl - nach
seinem eigenen Geschmack den Gebrauch anheim.

III. Und so sehen wir, daß die einen - durch die Annehmlichkeit der Lektüre vom Ziel
abgelenkt - sich nur von der Begierde nach Genuß leiten lassen und jener herrlichen Früchte
verlustig gehen. Sie wollen aus der Geschichtslektüre nur soviel gewinnen wie jene, die sich ihre
Zeit mit Zitherspiel vertreiben; d. h. sie schütteln die Beschwerlichkeit der Zeit ab, aber nur um
sich alsbald mit größerer Beschwerlichkeit konfrontiert zu sehen. Aber es gibt keinen (echten)
Genuß, der nicht auf die Tugend Rücksicht nimmt. Andere lockt nur das schimmernde Bild des
Ruhmes und, während sie sonst über geistige Beweglichkeit verfügen, fixieren sie sich hier in
wahnhafter Weise auf jegliches Bild von Erhabenheit und Größe, wobei sie vergessen, daß die
Schriftsteller ruhmreiche exemplarische Taten zu keinem anderen Zweck dargestellt haben, als

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