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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0017
Lernen aus der Geschichte?

unseren Zuspruch finden. Wenn sie das allerdings offen so machten, wäre es dem Leser ziemlich
leicht, seine Zustimmung zu geben oder zu versagen. Nun aber versucht der Historiker, seinen
Leser einzufangen (was er eigentlich nicht tun sollte), so wie Köche, die häufig eher den
Gaumen als das Wohlergehen ihres Herrn im Sinn haben. Wir werden also sehr oft doppelt »an
der Nase herumgeführt«: sowohl durch unser eigenes Urteil als auch durch das Vor-Urteil der
Schriftsteller, da sie ja die Dinge nicht nackt mitteilen. Der Geschichtsschreiber ist nämlich
Interpret der Ereignisse, und wenn sein Urteil fehlerhaft ist, ist es so, wie wenn ein an sich
trefflicher und edler Wein entweder den üblen Geruch des Gefäßes annimmt oder sonst durch
künstlichen Beisatz verfälscht wird. Solches Tun ist entweder Fälschung oder höchste
Unwissenheit und jedenfalls unerträglich. An einem einzigen Beispiel kann man sehen, was das
Urteil des Schriftstellers ausmachen kann. Der profane Historiker, der die Ergebnisse großer
Unternehmungen dem Planen und Streben der Menschen zuschreibt, obwohl er doch so oft
letztendlich erfahren hat, daß er nicht die Wahrheit sagt, unterstellt den Menschen eine so
unglaubliche Beschränktheit, daß sie geistig nicht in der Lage wären, die Dinge zu beurteilen,
die sich vor ihren eigenen Augen abspielen und daß ihre Kraft, die kaum die eines Würmchens
übertrifft, sich aufgrund eines einmaligen leichten Erfolges die Lenkung der Welt anmaßen
dürfte. Ganz anders der erleuchtete Historiker! Indem er lehrt, daß geschichtliche Taten zwar
durch menschlichen Entschluß ausgeführt, aber durch göttlichen Ratschluß gelenkt werden,
befreit er die Menschen nicht nur von der Unwissenheit sondern auch vom Aberglauben, einem
ebenso großen Übel. Inwieweit Gott und die Menschen sich sonst noch in der Art ihres
Handelns voneinander unterscheiden, darf - wenigstens den Guten, denen ja alle Studien heilig
sind - nicht unbekannt sein.

V. Diese Ermahnungen setze ich an den Anfang. Ich bin nämlich der Ansicht, daß derartige
Schriftsteller wegen der gewaltigen Wirkung ihrer unzähligen Exempla möglichst viel gelesen
werden sollten. Ich möchte die jungen Leute aber auch dazu ermahnen, sich zu überlegen, mit
welcher Umsicht und mit welchem Eifer sie gelesen werden wollen, da sie sowohl viel Nutzen
wie auch Gefahr in sich bergen. Wenn nämlich einer glaubt, man könne sich mit Geschichte nur
so nebenbei beschäftigen oder das Leben selbst blindlings und ohne exakte Einhaltung aller
Pflichten führen n, so geht es ihm wie jenen Bauern, die bei der Zerstörung einer nahe gelegenen
Stadt eine gut ausgestattete Apotheke plünderten, sich durch den süßen Geschmack von
Zuckerwerk und Gewürzkräutern, die ihnen zuerst in die Hände fielen, verlocken ließen und in
dem Glauben, das übrige sei auch von dieser Art, alles schlürften, schluckten, tranken und
verschlangen und daran teils erkrankten, teils wahnsinnig wurden. Die meisten kamen um,
niemand blieb ungeschoren, im Heer aber wurde allgemein gelacht12. Ebenso wie das Leben, so
ist auch das Abbild des Lebens, die Geschichte, voll von Heilsamen und Schädlichem zugleich.
Sie, die ganz nur lebendige Erfahrung ist, ist eine Schule der Lebenserfahrung. Leb' wohl und
laß dir diese Ermahnungen recht zum Nutzen werden.

11 Daß man sein Leben prüfen und nicht planlos führen soll, ist das zentrale Anliegen der antiken
Philosophie. So ist für Sokrates, dem Leben und Philosophieren ein und dasselbe war, »ein ungeprüftes
Leben nicht lebenswert« (Plat. Apol. 38a).

12 Dieses Umschalten des Autors von der Feierlichkeit lehrhafter Mahnung zur Anschaulichkeit einer
komödienhaften Szene erinnert an Erasmus. In seinen Colloquia und im Lob der Torheit ist die Mischung
von Scherz und Ernst, von Uberzeugung und Ironie besonders charakteristisch. Und wie Erasmus, so will
auch Grynaeus den Leser belehren, weiß aber wohl, daß er niemals langweilig sein darf, wenn er damit
Erfolg haben will.

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