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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0036
Casimir Bumiller

2. Stiefeltern - Stiefkinder

Wenn etwa jede dritte Ehe von einer Witwe oder einem Witwer geschlossen wurde, dann
läßt sich vermuten, daß es eine große Zahl von Stiefkindern gegeben haben muß. Ein paar
Beispiele können dies deutlich machen. In ihre jeweils zweite Ehe bringen Melchior Kohler
9 Kinder (1609), Catharina Eckenweilerin 5 Kinder (1610), Hans Bumiller 6 Kinder (1610),
Anna Schülerin 3 Kinder (1611) und Barth Schuler 5 Kinder (1611). Catharina Beckin und
Hans Hewis vereinigen 1611 zusammen 6 Kinder aus ihren ersten Ehen. Insgesamt konnte ich
für den Zeitraum dieser Untersuchung 68 Personen als Stiefkinder erkennen oder erschließen.
In dieser Zahl dürften aber sicher nicht alle erfaßt sein. Jedenfalls gehörte es für einen großen
Teil der Bevölkerung jener Zeit zu den sozialen Erfahrungen, Stiefkind zu sein, und das
Stiefkind-Stiefeltern-Motiv im Märchen findet in dieser Tatsache seinen realen historischen
Hintergrund16.

Dieses Problem stellte auch für die Gemeinde eine Herausforderung dar, da ihr nämlich die
Sorge für Waisen und Halbwaisen oblag. Sie bestimmte für Kinder, die ein Elternteil verloren
hatten, gutbeleumundete Männer als Pfleger, die vor allem für die Existenzsicherung der Kinder
verantwortlich waren, die sie bis ins Erwachsenenalter betreuten und auch juristisch vertraten.
Sie regelten Erbschaftsansprüche, tätigten für die Mündel Käufe und Verkäufe, sorgten für die
Aussteuer und hatten wohl auch Einfluß auf die Wahl des Ehegatten. Michel Keck, der 1603 in
seine zweite Ehe ein Mädchen mitbrachte, mußte sich etwa mit dessen Pfleger vergleichen: das
Kind sollte 14 Pfd. sowie Kleider und Bettstatt seiner Mutter erhalten. So stellten die
Kinderpfleger ein soziales Sicherungssystem dar, das die ökonomischen Schwierigkeiten von
Stiefkindern eventuell auffangen konnte. Die psychischen Belastungen und persönlichen
Schwierigkeiten zwischen Stiefkindern und Stiefeltern waren damit aber nicht gelöst. Welche
aggressive Spannung solche Verhältnisse beherrschen konnte, mögen einige Beispiele zeigen.
Balthas Kohler z. B. hatte 1611 seine Stiefmutter, Michel Kohlers Witwe, geschlagen. Obwohl
sie nicht geblutet hat, was immerhin andeutet, daß er die Frau auch hätte blutig schlagen
können, zahlt er die hohe Strafe von 5 fl.

Welch Mißverstandt und Unwillen zwischen Stiefvater und Stiefsohn aufkommen können,
schildert der Fall von Caspar Conantz und seinem Stiefsohn Theis Seitz, der die Herrschaft
jahrelang beschäftigte. Conantz, der wohl erst 1599 nach Jungingen geheiratet hatte, hatte von
Anfang an Streit mit seinen Stiefsöhnen, besonders aber mit Theis, der selbst schon verheiratet
war und im übrigen auch eine Stieftochter hatte. Es ging um das gemeinsame Wohnen im Haus,
das zum Erbe des Theis gehörte. So klagte Caspar Conantz 1604, der Stiefsohn hätte ihn und
seine Mutter mit Gewalt aus dem Haus getrieben. Theis meinte, die fünf Jahre, die sich sein
Stiefvater hier verdingt hätte, seien verflossen, jetzt wolle er das Haus mit seiner Familie alleine
bewohnen. Außerdem sei seine Mutter noch mehr als Conantz zänkisch, er wolle die beiden
nicht mehr im Haus dulden. Mehrfach verweigerte er dem Stiefvater die Herberge. Erst 1608
fand der Fall seinen gütlichen Ausgang: Caspar Conantz hatte sich um 67Vi fl. in seines
Stiefsohns Haus gedingt und sie wollten beide einen Brief darüber aufrichten.

Wo Menschen eine Beziehung zueinander eingehen, in der wirtschaftliche Interessen eine
Rolle spielen, wird dies juristisch geregelt. Aber sowenig die Heiratskontrakte etwas über die
Gefühle der beiden Partner zueinander aussagen, sowenig beweist der Brief zwischen Caspar
Conantz und Theis Seitz ihre Aussöhnung. Es ist ein >Waffenstillstand<, der bei der nächsten
Gelegenheit gebrochen werden kann, weil die Abneigung des Theis Seitz zu seinem Stiefvater
unter den juristischen Formeln natürlich nur verdeckt ist. Diese potentiell aggressive Grundstruktur
in den menschlichen Beziehungen spielte nicht nur im Verhältnis von Stiefeltern zu

16 Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann, Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt
1974. S. 32-37.

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