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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0128
Manuel Werner

haus zu führen und die Gemeinde zu einigen. Die Kultusvenvaltung bekannte: Der religiöse
Indifferentismus macht sich in unserer ohnehin kleinen Gemeinde fühlbar92.

Zwar gab es noch reges jüdisches Gemeindeleben. Viele Juden aber standen dem mosaischen
Glauben, der ihnen allenfalls noch äußere Form bedeutete, bereits recht fern. Im Leben und
Denken hatten sie sich weitgehend der nichtjüdischen Umwelt angepaßt. Dieser Sachverhalt
läßt sich an einigen Indizien leicht ablesen:

- der Annahme eines bürgerlichen (christlichen) Namens neben dem ererbten hebräischen,

- der Zunahme deutscher Grabinschriften statt hebräischer,

- der Abnahme traditionell jüdischer Symbole auf den Grabsteinen zugunsten allgemeiner
Motive (mit Ausnahme des Kreuzes),

- der sogenannten Mischehen93,

- der Einführung des Begriffs Tempel für Synagoge (und Kirche),

- der Ersetzung der damals vorurteilsbehafteten Bezeichnung Jude durch Israelite,

- der Anschaffung einer Predigtkanzel,

- der Einführung von Religionsvorträgen und Predigten in deutscher Sprache (statt in
hebräisch oder jiddisch),

- der Streichung der messianischen Erwartung und der Bitte um die Rückkehr in das Land der
Väter in den Gebeten,

- des Chorgesangs und der Harmoniumbegleitung beim Gottesdienst,

- der Angleichung an den christlichen Ornat (z.B. stolaähnlicher Tallit94),

- der Katechismen nach christlichem Muster als didaktische Zusammenfassung des Religionsinhalts
(mit Schwerpunkt auf Sittenlehre),

- der Ausweitung der religiösen Volljährigkeitsfeier auf Mädchen95,

- der Einführung einer Katechisation,

- der Bezeichnung Konfirmation statt Bar Mitzwah96.

Auffallend ist dabei (neben der starken Entwicklung hin zum Reformjudentum), daß sich
die jüdische Gemeinde eher an Formen der Protestanten anlehnte. Nationale Assimilation,
ethische Akzentuierung der gesamten Religiosität und eine deutliche Neigung zum aufklärerischen
Rationalismus gingen damit einher97. Die jüdische Gemeinde verschaffte sich im Laufe
der Zeit Geltung und Anerkennung neben den beiden christlichen Konfessionen.

Der 1893 als Reaktion auf den Antijudaismus entstandene Central-Verein deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens98, der auch in Hechingen als Ortsgruppe bestand, trat für ein

92 Vgl. Schreiben der Kultusvenvaltung der israelitischen Gemeinde vom 24. September 1908 an die
Königliche Regierung in Sigmaringen. Lagerort: StAS Ho 235 I - XI E 1435.

93 Mischehen sind nach traditionellem Eherecht unmöglich, der vorherige Ubertritt zum Judentum im
Falle einer Ehe mit Nichtjuden also bindend. In der Praxis aber waren Mischehen nach der Aufklärung in
assimilierten und liberalen Kreisen sehr verbreitet; sie sind auch heute in den USA in reformjüdischen sowie
religiös desinteressierten Kreisen üblich. Dagegen kämpfen sowohl konservativ-religiöse wie zionistische
Gruppen mit großem Aufwand, aber wenig Erfolg. (Vgl. KLJ, S. 213).

94 Tallit = Gebetsmantel.

95 Diese sogenannte Bat Mitzwah wurde vor allem in Reformgemeinden praktiziert.

96 Bar Mitzwah = »Sohn des Gebots«. Bezeichnung des Jungen, der das 13. Lebensjahr vollendet hat und
damit nach der Halacha zur Erfüllung aller religiösen Gebote verpflichtet bzw. berechtigt ist. Dies wird
durch die öffentliche Aufrufung zur Verlesung der Tora im Synagogengottesdienst symbolisiert.

97 Vgl. KLJ, S. 255 f.

98 1893 in Berlin gegründeter Verband zur Wahrung der bürgerlichen und sozialen Gleichstellung der
Juden in Deutschland (für eine deutsch-jüdische Symbiose und antizionistisch). Seit 1933 vor allem
Beratung seiner Mitglieder in Rechts- und Wirtschaftsfragen. Ab 1935 »Centrai-Verein der Juden in
Deutschland«, 1936 »Jüdischer Centrai-Verein«. Publizierte zunächst die Monatszeitung: Im Deutschen
Reich, dann die Wochenzeitung: Centrai-Verein (C. V.)-Zeitung. Am 10. 11. 1938 Verbot durch die
Gestapo. (Vgl. KLJ, S. 66).

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