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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1985/0235
Funde aus der Hechinger »Genisa«

EINLEITUNG. WAS IST EINE GENISA?

0. Im Sommer und im Herbst des Jahres 1983 wurden bei der Renovierung der Hechinger
Synagoge in der Goldschmiedstraße unter den Brettern des Dachbodens an verschiedenen
Stellen Reste von rituellen und profanen Gegenständen sowie von religiösen und nicht-
religiösen Büchern aufgefunden. Man darf getrost davon ausgehen, daß diese Funde die letzten
Überbleibsel aus der ehemaligen »Genisa« der Synagoge sind, die sich offensichtlich auf dem
Dachboden des Gotteshauses befunden haben muß.

0.1. Was hat man sich unter einer »Genisa« vorzustellen? Unter Juden war es seit der Zeit
des Zweiten Tempels, der bekanntlich im Jahre 70 n. Chr. zerstört wurde, üblich, Kultgeräte
und heilige Schriften nicht einfach fortzuwerfen, sondern zu »verstecken«. Diese Sitte blieb
auch nach der Zerstörung des Tempels erhalten, und man warf zerschlissene Bücher und
unbrauchbar gewordene »heilige« Geräte in einen Kasten oder in eine Tonne, die in der Vorhalle
oder einem Nebenraum der Synagoge aufgestellt wurden, hinein; quollen diese Behältnisse
über, so wurden die darin befindlichen Gegenstände zumeist auf dem Dachboden des Bethauses
deponiert, bis auch dort kein Platz mehr vorhanden war, worauf man die Reste schließlich in
aller Regel auf dem Friedhof an einer unbezeichneten Stelle begrub. Ursprünglich hatte man in
solchen »Genisot« auf Synagogendachböden nur Schriftrollen oder Bücher gelagert, in denen
der heilige, aus vier Konsonanten bestehende Gottesname, das sogenannte Tetragramm,
geschrieben oder gedruckt war, denn diesen wegzuwerfen, galt als Sünde, ja es war nicht einmal
gestattet, ihn auszusprechen - nur der Hohepriester hatte dies einmal im Jahr, nämlich im
Tempel beim Gottesdienst des Versöhnungstages, gedurft. Später dehnte sich der Brauch der
Genisa-Einlagerung auf alle in hebräischen Lettern gedruckten oder geschriebenen Bücher bzw.
Schriftstücke aus, und so kommt es, daß wir in Genisot auch Privatbriefe und sonstige
handschriftliche Dokumente finden, obwohl dort, wie gesagt, nur sogenannte »Schemot«, d. h.
Schriftwerke, die den Gottesnamen (hebr. schem) enthalten, eingelagert werden sollten1. Im
allgemeinen wurde in solchen Genisot nichts von besonderer Bedeutung entdeckt - mit einer
berühmten Ausnahme: in der aus dem 7.Jahrhundert n.Chr. stammenden Esra-Synagoge in
Fostat (Alt-Kairo) fand man bei einer um das Jahr 1890 stattgehabten Renovierung in einem
zugemauerten Nebenraum eine Unmenge von alten, noch aus dem Mittelalter herrührenden
Schriften. Der jüdische Gelehrte Salomon Schechter nahm davon 1897 ungefähr 100000 Blätter
mit nach Cambridge, wo er mit deren Auswertung begann, eine Aufgabe, die noch keineswegs
abgeschlossen ist. In dieser Kairoer Genisa wurde z. B. das hebräische Original des Buches Jesus
Sirach, das zu den apokryphen Büchern der christlichen Bibel gehört, in den jüdischen Kanon
jedoch nicht aufgenommen worden war, wieder aufgefunden, und erst anfangs der sechziger
Jahre unseres Jahrhunderts kam unter den Funden aus Kairo die sogenannte Cambridger
Handschrift zum Vorschein, die u.a. das Fragment eines Gedichtes aus dem Gudrun-Epos
(»Dukus Horant«) in hebräischen Lettern und altjiddischer Sprache aus dem Jahre 1382 enthält.
Diese Handschrift, in der noch andere religiöse und epische Gedichte eines jüdischen
Spielmannes aufgezeichnet sind, ist offenbar von aus Deutschland vertriebenen Juden mit nach
Kairo gebracht worden2.

0.2. Es sei aber gleich vorweg gesagt, daß die Hechinger Genisa mit dergleichen Sensationen
nicht im entferntesten aufwarten kann. Bevor wir die Hechinger Funde der Reihe nach

1 Vgl. den Artikel »GENISA« in JL II, 1014-1015, sowie in EJJ 7: 404-407 (»GENIZAH«). Zur
Vorschrift des Genisa-Gebots s. KSAI, 157-158 (Kap. 28, §5 und 10), sowie Sch. Ar. Toi. I, 144-145
(Kap. 30, § 1-4).

2 Zu Salomon Schechter vgl. EJJ 14: 948-950 (»SCHECHTER, SOLOMON [Shneur Zalman;
1847-1915]«). Zur Kairoer Genisa die in Fn 1 erwähnten Einträge (»GENISA«/»GENIZAH«) in JL bzw.
EJJ. Zum »Dukus Horant« s. den informativen Aufsatz von Leo Fuks in Weinreich, Studies, S. 267-274.

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