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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0129
GERHARD SCHULZ

Preußen, Deutschland und die polnische Frage
im Kaiserreich und in der Weimarer Republik'

Johannes Ziekursch, ein bekannter Historiker der Weimarer Republik, kein Verehrer
Bismarcks, nannte in seiner »Geschichte des neuen Deutschen Kaiserreiches« die Polen, bei
allem Verständnis für ihre Lage, »ein sozial unvollkommenes Volk«, das »der Ergänzung und
damit der Führung und Beherrschung durch ein anderes« bedürfe. »Uber der kulturell sehr
zurückgebliebenen polnischen Landbevölkerung gab es als höhere soziale Schichten nur die
katholische Geistlichkeit und einen kopfreichen, aber wirtschaftlich zerrütteten Adel. In den
Städten wohnten Deutsche und Juden; ein polnisches Bürgertum fehlte ebenso wie ein
brauchbares polnisches Beamtentum und die freien Berufe1«. Damit beschrieb er die Lage in
den Jahren des Wiener Kongresses, trug er aber zur Festigung eines häufig verallgemeinerten
Urteils bei, dessen definitiver Charakter, so zweifelhaft er war, unter Deutschen weithin als
unbestritten galt und mithin auch die Folgerungen erklärt, die in manchen der bis 1945 weithin
gängigen Urteilen vorherrschten. Sie verkannten ein Volk, das fast in allen Perioden der neueren
Geschichte bedeutende Persönlichkeiten, auch fähige Staatsmänner hervorgebracht hat und bis
auf unsere Tage einen eigenen Raum in der Geistes-, in der Kunst- und in der Literaturgeschichte
Europas ausfüllt, obgleich es 120 Jahre lang von der politischen Landkarte verschwunden
war. Ziekurschs Darstellung selbst hält sich freilich frei von dieser späteren Vereinseitigung.
Vielmehr erblickt er in der allmählichen Nachbildung einer selbstbewußten polnischen
bürgerlichen Intellektuellen- und Akademikerschicht, etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts,
und in ihrem Rückhalt in der polnischen Bevölkerung gerade dort, wo diese zahlenmäßig den
Ausschlag gab, die Ursache einer gefährlichen national-sozialen Rivalität2, die unter Bismarcks
Regiment zur nationalen Machtfrage wurde.

Auch die Politik der preußischen Reformen und ihre Bedeutung für die Polen überging
Ziekursch nicht. Ihr feinstes, eindrucksvollstes und im Grunde reinstes, vom Geiste der
Aufklärung geprägtes Programm findet sich in einem um 120 Jahre älteren Zeugnis, dessen
Beurteilung der Aufteilung Polens uns denkwürdig genug erscheint, um es hier ausführlicher zu
zitieren: »Die Teilung von Polen zeigte das traurige Bild einer durch fremde Gewalt
unterjochten Nation, die in der selbständigen Ausbildung ihrer Individualität gestört wurde,
der man die Wohltat einer sich selbst gegebenen freien Verfassung entriß und an ihre Stelle eine
ausländische Bureaukratie aufdrang. Die erobernde Nation fing mit Vergeudung des öffentlichen
Vermögens an raubsüchtige Günstlinge an, sie übertrug die innere Landesverwaltung an
schreibselige, formenreiche Behörden, sie erhöhte die Abgaben und entfernte die Inländer von
jeder wirksamen Teilnahme an der Verwaltung der Angelegenheiten ihres Vaterlandes... Die

* In der Reihe »500 Jahre preußischer Geschichte« am 26. Nov. bzw. 3. Dez. 1981 in Hechingen und
Sigmaringen gehaltenen Vortrag. Die Überarbeitung des Textes wurde im März 1985 abgeschlossen.

1 Johannes Ziekursch: Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, II. Bd.: Das Zeitalter
Bismarcks (1871-1890). Frankfurt a.M. 1927. S.237f.

2 Ebda.

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