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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1994-95/0234
Edwin Emst Weber

zur Diagnose, »Rassenzugehörigkeit« und vor allem der Arbeitsfähigkeit systematisch erfaßt.
Die in den Anstalten in Unkenntnis des wahren Zweckes ausgefüllten Meldebögen - vermutet
wird im allgemeinen ein wehrdienstlicher beziehungsweise kriegswirtschaftlicher Hintergrund
- gelangen über das Reichsinnenministerium und die Berliner »Euthanasie«-Zentrale an
ärztliche Gutachter, von denen jeweils drei unabhängig voneinander über den »Lebenswert«
oder »Lebensunwert« des auf dem Bogen erfaßten Kranken befinden. In schwarz umrandeten
Kästchen auf den Meldebögen wird ein rotes Kreuz eingetragen, wenn der Kranke getötet
werden, und ein blauer Strich, wenn er am Leben bleiben soll. Zwei Obergutachter fällen im
Massenverfahren auf der Grundlage der drei Einzelgutachten die endgültige Entscheidung
über das Schicksal der Kranken.

Listen mit den ausgesuchten Todeskandidaten wandern zum einen an die Tötungsanstalt,
in deren Zuständigkeits- und Einzugsbereich der betroffene Patient ansässig ist, zum anderen
über vorgesetzte staatliche Dienststellen an die Stammanstalt des Kranken zur Vorbereitung
der Verlegung. Aus den damit verbundenen Verlegungsbefehlen gehen Ziel und Zweck der
Verlegungen nicht hervor, es ist lediglich von kriegswichtigen Maßnahmen im Auftrag des
Reichsverteidigungskommissars die Rede. Die Tötungsanstalten veranlassen sodann von sich
aus die Abholung der Opfer, wobei sie sich der aus SS-Beständen stammenden grauen
Omnibusse der sogenannten Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft (GEKRAT),
einer von verschiedenen Tarnorganisationen der Berliner »Euthanasie«-Zentrale, bedienen.
Bei den in der Regel sehr kurzfristig angekündigten und vorgenommenen Verlegungen
werden das Verlegungsziel und vor allem der Verlegungszweck vor den Ärzten, Schwestern,
Pflegern und Insassen der Stammanstalten grundsätzlich geheimgehalten. In den Tötungsanstalten
, in welche die Patienten unmittelbar oder über Zwischenanstalten eingeliefert werden,
werden sie zumeist unverzüglich nach der Ankunft in als Duschräumen getarnten Gaskammern
ermordet, wobei die Hinrichtung durch das Einströmenlassen von Kohlenmonoxyd
ausdrücklich Ärzten vorbehalten ist, und nach dem Herausbrechen etwaiger Goldzähne in
Verbrennungsöfen verbrannt.

Parallel zur Tötung der Kranken werden durch bei den Tötungsanstalten eingerichtete
Sonderstandesämter für die Ermordeten Sterbeurkunden mit vom Mordarzt erfundenen, nach
Möglichkeit unverfänglichen Todesursachen ausgestellt. Zusammen mit sogenannten »Trostbriefen
« wird die Sterbenachricht sodann an die Angehörigen der Ermordeten weitergeleitet,
wobei, um die Häufung von Todesnachrichten in einer Region oder gar einem Ort zu
vermeiden, die Sterbeurkunden systematisch falsch datiert oder sogar im Äustauschverfahren
von unterschiedlichen Tötungsanstalten versendet werden. Trotz aller Bemühungen um
Geheimhaltung werden die »Euthanasie«-Morde in den Jahren 1940 und 1941 in der deutschen
Bevölkerung weithin bekannt und stoßen auf ein unter den Bedingungen der nationalsozialistischen
Diktatur hohes Maß an Ablehnung. Eine ganz wichtige Rolle spielt in diesem
Prozeß die bekannte Predigt des Bischofs von Münster, von Galen, am 3. August 1941. Im
selben Monat wird die »Aktion T4« auf Befehl Hitlers abgebrochen; nach einer zeitweiligen
Einschränkung laufen andere Maßnahmen zur »Vernichtung lebensunwerten Lebens« in der
Folge indessen auf vielfältige Weise weiter und kosten weiteren Zehntausenden von Geisteskranken
das Leben.

Von allen diesen schrecklichen Vorgängen werden auch das Sigmaringer Landeskrankenhaus
und seine Psychiatrie betroffen43. Auch der Leiter der dortigen Nervenabteilung füllt auf
Anweisung einer Berliner Behörde, wie er bei einer späteren staatsanwaltschaftlichen Untersuchung
angibt, Meldebögen zu sämtlichen Patienten aus, die nach Berlin eingereicht und zur

43 Zum Folgenden Ermittlungs-Akten der Staatsanwaltschaft Tübingen von 1948 zum Grafeneck-
Prozess - Ermittlungen zum Landeskrankenhaus Sigmaringen (Staatsarchiv Sigmaringen WÜ29/3, Bd. 1,
Nr. 1757).

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