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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1997/0020
Edwin Ernst Weber

stähle von Vorräten und Vieh führen zu einer massiven Störung der Feld- und Erntearbeiten
und alsbald zu Nahrungsmangel, so daß offenbar seit Ende Mai 1635 in unseren beiden Pfarreien
wie auch anderenorts eine Hungersnot grassiert5. Hinzu kommt zumindest in Bingen,
daß im August, unmittelbar vor der Ernte, ein Hagel-Unwetter den Getreideertrag auf den
Feldern in nur wenigen Augenblicken zur Gänze vernichtet6. Seit dem Sommer 1635 und auch
noch im folgenden Jahr 1636 sind in den herrschaftlichen Amtsprotokollen zuhauf Nahrungsdiebstähle
festgehalten, die von den ertappten Tätern durchgehend mit ihrem großen Hunger
gerechtfertigt werden. Susanna Wörrin von Bingen beispielsweise, die nachts aus dem Haus
von Jacob Pfeiffer Brot gestohlen und sodann mit ihrer Familie verzehrt hat, beteuert im Mai
1636 gegenüber der Obrigkeit, daß sie nichts anders dan der große Hunger, weßwegen Ir dan
ein Kindt beraits gestorben, hierzue gebracht habe7. Die ganz überwiegende Zahl der zwischen
Ende Mai und Ende August 1635 im Binger Kirchenbuch festgehaltenen 31 Todesfälle führt
der eintragende Pfarrer Johann Chrysostomus Fischer auf fame, also Hunger, zurück8.

Dies ist indessen erst der Anfang des Unheils. Mit den Soldaten und der allenthalben vor
dem Krieg fliehenden ländlichen Bevölkerung wird eine in den Quellen als Pest bezeichnete
Seuche auch in den Oberen-Donau-Raum eingeschleppt und verbreitet, die unter der vom
Hunger geschwächten Bevölkerung vielerorts in kürzester Zeit verheerende Opfer fordert.
Für die Pfarrei Bingen läßt sich anhand der überlieferten Toten- und Kommunikantenlisten
das ungeheure Ausmaß dieser Tragödie erahnen9: Nachdem im Schnitt der Jahre 1626 bis 1633
in der Pfarrei mit ihren drei Dörfern 12,25 Todesfälle zu verzeichnen gewesen waren, schnellt
die Zahl der Beerdigungen 1634 auf 40 und im Hunger- und Seuchenjahr 1635 gar auf unglaubliche
368 Fälle hoch, wie Pfarrer Fischer Anfang 1636 im Kirchenbuch festhält. Eine
Quantifizierung der vom Pfarrer namentlich erfaßten Toten ergibt allerdings »lediglich« 301
Todesfälle, 169 Erwachsene und 132 sogenannte »Junge«, darunter auch nicht wenige Fremde
- Soldaten, Flüchtlinge, Leute aus der Nachbarschaft. Auch das folgende Jahr 1636 hat mit 81
Todesfällen eine eklatant überhöhte Sterberate zu verzeichnen, ehe seit 1637 die Sterblichkeit
dann wieder auf den Stand vor der Katastrophe absinkt und sich während des gesamten weiteren
Kriegsverlaufes nicht mehr signifikant erhöht10.

Im Jahr 1634 hatte der Seelsorger insgesamt 586 Teilnehmer an der für die gesamte Bevölkerung
jenseits des Erstkommunionalters obligatorischen Osterkommunion gezählt, im Jahr darauf
sind es noch 532: 371 im Pfarrdorf Bingen selbst, 95 in Hitzkofen und 66 in Hornstein.
Wenn man davon ausgeht, daß die Gesamteinwohnerzahl der Pfarrei einschließlich der noch
nicht zur Kommunion zugelassenen Kinder 1634, vor dem Einbruch des Katastrophe, bei maximal
etwa 750 bis 800 Seelen gelegen hat", wäre damit innerhalb von zwei Jahren vermutlich

5 Allgemein zu den Hintergründen der Hungersnot von 1635 von Hippel (wie Anm. 2), S. 436f.

6 »Nota«-Eintrag von Pfarrer Fischer im Binger Kirchenbuch 1636-1700, Sterbebuch (Pfarrarchiv Bingen
), von Anfang 1636.

7 Amtsprotokoll der Grafschaften Sigmaringen u. Veringen (wie Anm. 4) v. 27. 5. 1636, fol. 309r.; weitere
Bspe. für Hungerdiebstähle ebd. v. 14. 7. 1635, fol. 284r (Krauchenwies), v. 9. 9. 1636, fol. 37v, v. 27. 11.
1641, fol. 310r.

8 Binger Kirchenbuch 1625ff., Sterberegister (wie Anm. 3).

9 Zum folgenden vgl. Binger Kirchenbücher 1625-1635 (wie Anm. 3) und 1636-1700 (wie Anm. 6),
Sterbebuch und Kommunikantenlisten.

10 Geringfügig aus dem Rahmen fällt lediglich das Kriegsjahr 1647 mit 17 Todesfällen, 6 Erwachsenen
und 11 Kindern.

11 Vergleichende Gegenüberstellungen in verschiedenen Pfarreien der Landschaft der Reichsstadt Rottweil
ergeben für das 17. und 18. Jahrhundert einen Anteil der Osterkommunikanten an der Gesamtseelenzahl
von zwischen zwei Drittel und drei Viertel (vgl. Edwin Ernst Weber: Städtische Herrschaft und
bäuerliche Untertanen in Alltag und Konflikt: Die Reichsstadt Rottweil und ihre Landschaft vom Dreis-
sigjährigen Krieg bis zur Mediatisierung. Rottweil 1992 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Rottweil
Bd. 14, S. 226).

S


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